Foto: Mariss Jansons © Peter Meisel
Schumann und Berlioz mit den Wiener Philharmonikern in der Elbphilharmonie Hamburg
Mit einer fast zu edel polierten Frühlingssinfonie startet der Konzertabend mit Mariss Jansons und den Wiener Philharmonikern. Nach der Pause drehen Maestro und Orchester richtig auf und jagen mit Verve eine Symphonie fantastique durch den Saal, die wie ein rasanter Drohnenflug durch ein zerklüftetes Hochgebirge anmutet.
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 5. Juni 2019
Wiener Philharmoniker
Mariss Jansons, Dirigent
Robert Schumann, Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 „Frühlingssinfonie“
Hector Berlioz, Symphonie fantastique / Episode de la vie d’un artiste op. 14
von Guido Marquardt
Wie kann man eigentlich nach Beethoven Sinfonien schreiben? Diese Leitfrage könnte als Klammer für das Programm mit zwei Werken von Schumann und Berlioz dienen, die nicht nur in enger zeitlicher Verwandtschaft, 1841 (Schumann) und 1830 (Berlioz) entstanden sind, sondern auch jeweils in einem recht ähnlichen Lebensalter der Komponisten, die beide um die dreißig waren. Und dann doch sehr unterschiedliche Werke schufen.
Es ist sicherlich nicht die charmanteste Bemerkung, die man an dieser Stelle machen kann, aber der Dirigent des Abends, Mariss Jansons, ist 76 Jahre alt – und wirkt keinen Tag jünger. Was einen durchaus mit Besorgnis über seine Kondition für einen Konzertabend erfüllen könnte, verfliegt jedoch spätestens nach der Pause, wenn Jansons den Wiener Philharmonikern einen furiosen Berlioz entlockt.
Doch zuvor Schumann: die Frühlingssinfonie. Überschwang, junges Eheglück und die Inspiration durch Schuberts C-Dur-Sinfonie befeuerten einen Schaffensprozess, in dem Schumann innerhalb von vier Tagen die gut halbstündige Frühlingssinfonie schuf. Entsprechend frisch, voll und euphorisch klingt das Werk. Wenn dann ein so erfahrener Mann wie Jansons und eine gut geölte Orchestermaschine wie die Wiener Philharmoniker zusammentreffen, muss das schwelgerisch werden, kann aber auch schon mal etwas glatt geraten.
Von Beginn an ist das Orchester da, die Trompeten schmettern kraftvoll, in den Tutti geht es rund und warm zur Sache. Da gibt es objektiv nichts zu meckern, und die gewünschte Festlichkeit stellt sich ein. Spätestens im zweiten Satz fällt aber auf, dass hier doch manches arg verschleppt wirkt. Ein Larghetto soll fließen, doch kommt das Orchester mehrfach beinahe zum Stillstand.
Zwischen allen Sätzen – das wird auch später für den Berlioz gelten – macht Jansons kurze Pausen, speziell zwischen dem zweiten und dritten Satz bei Schumanns Sinfonie somit gegen die ausdrückliche „attaca“-Anweisung des Komponisten. Das sind dann möglicherweise doch die nötigen Atempausen für den Dirigenten. Aber mit dem dritten Satz bekommt Jansons merklich die Kurve: Startet das Scherzo anfangs noch fast zu ernst und gravitätisch, merkt man beim Tempowechsel, wie gut Dirigent und Orchester harmonieren, und es gelingen einige hinreißende Dialoge zwischen Streichern und Bläsern.
Was im Scherzo bereits auffällt und sich im vierten Satz fortsetzt: Sobald die Musik etwas tänzerischer und spielerischer wird, sind die Musiker in ihrem Element. Von den Hörnern über die Flöten bis hin zu den Streichern sind viel Schwung und Schmelz im Spiel – hier hat das Orchester die Spielanweisungen des Komponisten voll umgesetzt und man glaubt sofort, dass im vierten Satz der „volle Frühling“ zu Gehör gebracht werden sollte.
Bereits drei Mal gastierten die Wiener Philharmoniker vor diesem Juniabend in der Hamburger Elbphilharmonie – unter der Leitung von Semyon Bychkov, Ingo Metzmacher und Andris Nelsons. Aber bislang noch nicht mit Maestro Jansons, der das Orchester immerhin schon mehr als 120 Mal dirigierte, beginnend 1992. Allerdings spielte diese Paarung schon einmal im Januar 2011 gemeinsam in Hamburg, nämlich in der Laeiszhalle. Und mit welchem Programm? Lieder von Gustav Mahler (mit Bariton Thomas Hampson) und … der Symphonie fantastique von Berlioz!
Die absolute Sicherheit im Stoff und die große Vertrautheit miteinander merkte man Jansons und den Philharmonikern jederzeit an. Das hilft natürlich, denn dieses wilde, fiebrige Werk hat es in sich. Ein Werk, das als Inbegriff romantischer Programmmusik gilt, das nach gängiger Interpretation (und Berlioz‘ eigenen Aussagen) eine unglückliche und verzweifelte Liebe erzählt, nach jüngeren Forschungsergebnissen aber auch die musikalische Illustration von Berlioz‘ Epilepsie sein könnte.
Der mit „Träumereien, Leidenschaften“ überschriebene erste Satz beginnt zwar noch recht verhalten, hat aber auch die Aufgabe, das Leitmotiv, die „Idée fixe“ einzuführen, mit dem die Angebetete charakterisiert wird. Die Zerrissenheit des Protagonisten wird durch zerklüftete Strukturen, Melodie-, Tempo- und Lautstärkebrüche überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Da muss man sich im ersten Satz reinhören, es bleibt bis zum Ende so. Es ist hier für den Dirigenten nicht trivial, dennoch alles zusammenzuhalten – Jansons gelingt es souverän.
Ein absoluter Höhepunkt ist dann der zweite Satz, „Ein Ball“. Die Walzerklänge geraten unglaublich präzise und zugleich elegant, sie klingen ebenso beschwingt wie halluzinatorisch; von Straußscher Seligkeit sind wir hier ganz weit entfernt, die labile Persönlichkeit des Verliebten flackert immer wieder auf. Großartig!
Der Hirten-Dialog im dritten Satz, Reverenz vor Beethovens Pastorale, zeigt uns zarteste Klänge von Englischhorn und (hinter den geöffneten Saaltüren) Oboe, bevor das Gewitter zuschlägt und einer der Schäfer allein zurückbleibt. Der gesamte Spannungsaufbau mit seinen zwischenzeitlichen Kulminationen und einem flächigen Streicherspiel, bevor das Ende ganz ruhig verklingt, schaffen eine entrückte Stimmung.
Im vierten Satz wird ein stolpernder, somnambuler Gang zum Richtplatz klanglich illustriert. Was hier besonders auffällt: Ebenso wie die tänzerischen Passagen (wie im zweiten Satz), gelingen auch die rhythmisch strukturierten, stolpernden Wechsel von Marsch und Fanfaren mit ihren höchst anspruchsvollen Tempowechseln ganz vorzüglich. Insbesondere Blechbläser und Schlagwerk haben in diesem Satz ihren großen Auftritt, aber auch feine Pizzicati gehören zum Gesamtbild.
Das orgiastische Finale des fünften Satzes, der Hexensabbat, bringt dann noch einmal diverse Höhepunkte, wie die von der Klarinette grotesk verzerrte Idée fixe und die Dies irae-Tuben. Mit schmetternden Tutti geht das Werk rasant und dynamisch zu Ende.
„Don’t judge a book by its cover“, sagt man ja – möge man ebenso einen Dirigenten niemals nach seinem Alter und nach seinem Schritttempo bewerten. Nein, Jansons forciert nichts, und auch wenn der Berlioz alles andere als verschleppt klingt, sind hier doch die absolute Klarheit im Ausdruck und die saubere Ausarbeitung jederzeit wichtiger als der allerletzte Schuss Dynamik und Tempo. Das liest sich weit akademischer als es im Saal klingt. Zu genießen war reine musikalische Schönheit.
Jansons Verbeugungen und seine Mimik nach dem orkanartigen Beifall eines sehr konzentrierten Publikums mögen ein wenig nach Abschied ausgesehen haben, aber das innere Feuer, mit dem Jansons diesen Weltklasse-Klangkörper nach der Pause durch den Parforceritt der Symphonie fantastique getrieben hat, macht Hoffnung auf weitere Großtaten. Möge Mariss Jansons der Musikwelt noch viele solcher Abende bescheren!
Guido Marquardt, 7. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at