Foto: Christian Tetzlaff © Giorgia Bertazzi
Christian Tetzlaff spielt an einem Abend alle sechs Violinsonaten und -partiten von Johann Sebastian Bach. Dass daraus kein akademischer Expertenkongress wird, sondern ein Fest der musikalischen Emotionen, verdanken wir Tetzlaffs tiefer Durchdringung und mitreißender Ausgestaltung dieses Höhepunkts der Violinmusik.
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 3. Juli 2019
Christian Tetzlaff, Violine
Schleswig-Holstein Musik Festival
Johann Sebastian Bach:
Sonate Nr. 1 g-Moll BWV 1001 für Violine solo
Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002 für Violine solo
Sonate Nr. 2 a-Moll BWV 1003 für Violine solo
Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 für Violine solo
Sonate Nr. 3 C-Dur BWV 1005 für Violine solo
Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 für Violine solo
von Guido Marquardt
Der Mount Everest ist seit 1953 rund 8.500 Mal bestiegen worden. Mehr als 300 Bergsteiger ließen dabei ihr Leben. Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich in den vergangenen 300 Jahren an Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo versucht haben und hoffen sehr, dass Todesfälle dabei ausgeblieben sind. Aber Gemeinsamkeiten gibt es durchaus zwischen der Besteigung des höchsten Bergs der Welt und dem Vortrag dieses Gipfelpunkts der Geigenliteratur: Die Anstrengungen sind enorm, der mögliche Prestigegewinn hoch, das Risiko des Scheiterns immens – und ganz oben wird die Luft verdammt dünn. Man könnte sogar so weit gehen, Vergleiche zwischen der Musik und einem Gipfelaufstieg ohne Sauerstoff und ohne Halteleinen zu ziehen. Schließlich steht der Geiger rund zwei Stunden lang ganz allein da, und im Gegensatz zu einem Konzertflügel verschafft ihn sein Instrument noch nicht mal einen gefühlten Abstandshalter.
Die technischen und psychischen Anstrengungen flößen also definitiv Respekt ein, und selbst ein erfahrener Virtuose mit breit gefächertem Repertoire wie Christian Tetzlaff spielt nicht jede Woche alle sechs dieser unsterblichen Werke. Hier nur an Handwerk oder gar Traditionspflege zu denken, führte vollkommen in die Irre. Auch waren diese Stücke wohl von Bach weder als Übungsmaterial noch als reine Zweckmusik angelegt. Die genauen Hintergründe liegen immer noch im Dunkeln, aber Fakt ist: Wenn ein Interpret sich dieser Stücke annimmt, so muss er es mit Leib und Seele tun. Diese zwei Stunden mit absoluter Musik, dargeboten auf einem einzigen Instrument, lösen bei jedem Zuhörer ganz individuelle Assoziationen aus und führen in geradezu meditative Zustände.
Tetzlaff transportiert die Musik von Anfang bis Ende ganz unprätentiös. Er steht einfach da und spielt los. Noten? Nur in der ersten Partita schaut er kurz mal auf den Notenständer, nach der Pause steht der nicht einmal mehr da.
Immer wieder setzt Tetzlaff besondere Akzente durch sein Spieltempo: Die langsameren Sätze formt er mit nachdrücklicher Artikulation aus, in sehr klarer Notenführung und weitgehend ohne Vibrato. Immer wieder lässt er diese Sätze besonders zart und leise verklingen, was wunderbare Übergänge schafft.
Die schnelleren Sätze hingegen spielt er geradezu irrwitzig schnell. Dies allerdings nicht in einer romantisierenden „Teufelsgeiger“-Art, sondern mit einer ätherischen Flüchtigkeit, die seinem nahezu fehlerfreien Spiel eine gewisse Nonchalance gibt. Stellen Sie sich jemanden vor, der sehr schnell, zugleich aber sehr leise spricht. Was tun Sie, wenn Sie den Eindruck haben, er hat auch wirklich etwas zu sagen? Sie hören um so genauer hin. Genau diesen Effekt erreicht auch Tetzlaff an diesem fantastischen Konzertabend. Das Double Presto in der ersten Partita – es klingt wie Maschinengewehrsalven mit Patronen aus Wolken. Am Ende des Satzes ehrfürchtiges Raunen im Saal. Das berühmte Preludio der dritten Partita – so rasant und auch so heiter, da kann das Publikum seinen Szenenapplaus nicht mehr zurückhalten.
Absolute Höhepunkte natürlich auch die mörderischen Steilwände, die Bach in Noten gefasst hat – die Ciaccona der zweiten Partita, geradezu eine Art Mini-Oper für ein Instrument, gefüllt mit so viel Leidenschaft. Tetzlaff nannte sie schon mal eine Totenklage, vermischt mit Angst vor und Sehnsucht nach dem Tod. Und selbst wenn man hier fast meint, dass er gleich seine Violine zerdrückt, dosiert Tetzlaff doch stets perfekt und kitzelt aus der Mehrstimmigkeit dieses Werks Passagen heraus, die unvermittelt erscheinen, kurze Figuren wie blitzlichthaft erleuchtete Rätselgestalten. Die gigantische Fuge in der dritten Sonate – ein Meisterkurs in Dynamik und packender Gestaltung. Beinahe noch verblüffender ist jedoch, wie er direkt nach diesem Parforceritt den sehnsuchtsvollen, leisen Gesang des Largos ausformt, als habe er sich zuvor genau dafür ausruhen können.
Neben diesen offensichtlichen Höhepunkten ist es besonders berührend, mit welcher hohen Musikalität und Innigkeit Tetzlaff die Bach-Stücke interpretiert. So gelingt zum Beispiel die zweite Sonate schlichtweg perfekt, vom Grave über die druckvolle Fuge und das geradezu auf der Stelle schwebende Andante bis hin zum echohaften Wechselgesang der Stimmen im Allegro – als hörte man der Debatte zweier Genies zu.
Die Schönheit der Musik entsteht an diesem Abend nicht aus Makellosigkeit oder Wohlklang. Nein, sie entsteht aus Charakter. Dazu gehört auch einmal ein etwas kratziger Ton, eine raue Herbheit, die dem ganzen Werk eine Frische verleiht wie die Säure einem jungen Riesling.
Gelegentlich wirft Tetzlaff – andere würden sich dabei die Halswirbel ausrenken – im Spiel kurze Blicke zu seinem Instrument. Ist er selbst überrascht davon, welche Töne er seiner Geige zu entlocken vermag? Auf jeden Fall hat man den Eindruck, dass er so etwas wie ein Sherpa dieser Musik ist: Er kennt die Routen, er kennt die Bedingungen, aber trotzdem verläuft jede Besteigung wieder etwas anders, eine Entdeckungsreise auch für ihn.
Die große Mehrheit des Publikums wurde reich beschenkt für ihr Sich-Einlassen auf ein so inniges und intensives Programm. Euphorischer Schlussbeifall war der deutliche Beleg dafür. Manchen erschloss sich der Zauber hingegen wohl nicht – frühzeitiges Verlassen deutete auf Saaltouristen hin, die vielleicht besser eine Führung gebucht hätten.
Eine große Bach-Retrospektive bringt das Schleswig-Holstein Musik Festival 2019. Und einen seiner größten Abende hatte es mit Sicherheit schon an diesem Mittwoch, vier Tage vor dem offiziellen Eröffnungskonzert. Da kann man dem Intendanten des Festivals, Christian Kuhnt, nur zustimmen: Gerade für ein solches Solo-Instrumentalkonzert ließe sich kein besserer Ort denken als der große Saal der Elbphilharmonie. So trocken und transparent, dass man dem mächtigen Werk Bachs vielleicht so nahe kam wie kaum je zuvor.
Guido Marquardt, 4. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de