Das NDR Elbphilharmonie Orchester zeigt sich von seiner Schokoladenseite

Foto: Rätzke (c)
NDR Elbphilharmonie Orchester
Vadim Gluzman Violine
Dirigent Hannu Lintu
Jean Sibelius, Tapiola / Tondichtung für großes Orchester op. 112
Alban Berg, Konzert für Violine und Orchester »Dem Andenken eines Engels«
Carl Nielsen, Sinfonie Nr. 4 op. 29 »Das Unauslöschliche«

von Ricarda Ott

Statt Anton Bruckners Vierter gab es nordische Sinfonik. Statt Christoph von Dohanyi, ehemaliger Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters von 2004-2011, gab am Donnerstagabend der finnische Dirigent Hannu Lintu sein Debüt in der Klangmanege am Kaiserkai. Ein Programm gespickt mit einschneidenden Umänderungen und dennoch ein mitreißendes Konzert.

Stargeiger Vadim Gluzman blieb als Programm-Konstante und interpretierte technisch brillant und äußerst klangversiert Alban Bergs Violinkonzert (1935) auf der wunderschönen Stradivari-Violine „Ex-Leopold Auer“ aus dem Jahr 1690.

Zunächst verwandelte das Orchester jedoch den ausverkauften Saal in die tiefen, verwunschenen Wälder Finnlands, die sich über das Nordland erstrecken: Sibelius sinfonische Dichtung Tapiola (1926) – als Namensgeber dient der Waldgott Tapio aus dem finnischen Nationalepos Kalevala – erzählt von der Finsternis, der Weite dieser uralt-verwunschenen Traumlandschaft.

Meisterhaft pflanzt Sibelius diese Stimmung in die Partitur, schaurig-schön instrumentiert er die Szenerie. Schillernd oszillieren Streicherklänge funkelnden Lichtflecken gleich über das weiche Moosbett; Paukenschläge werden sanft von Fagott und Horn umspielt – nähert sich uns da etwa ein Troll? Anschwellende Phrasen im Fortissimo des ganzen Orchesters spiegeln die unvorstellbare Dimension und Naturgewalt der Wälder wider, zartes solistisches Pianissimo hingegen immanente Fragilität und Zauber.

Voller Zauber dann der Schluss. Sekundenlang halten die Streicher einen Dur-Akkord: wie ein gleißender Lichtstrahl funkelt der durch die sonst durchweg in Moll gehaltene dunkel-düstere sinfonische Waldlandschaft.

Lintu kennt die Musik seines Landsmanns gut: „Ich habe durch seine Partituren viel über das Dirigieren gelernt, und weil sein musikalisches Material immer eng mit der finnischen Sprache verbunden ist, empfinden wir ihn ganz stark als ‚unseren’ Komponisten.“ Folglich wirkt sein Dirigat vertraut, unaufgeregt und bereitet einen spannungsgeladenen, höchst differenzierten Orchesterklang auf.

Aus den scheinbar entrückten, verlassenen Wäldern des finnischen Hinterlandes landet man dann mit der Musik Alban Bergs ungehemmt in der lebensnahen Realität. Ein Violinkonzert – zunächst als Auftragskomposition gedacht, dann nach dem tragischen Tod der jungen Manon Gropius im Jahr 1935 zu einem Requiem zum Andenken an den „Engel“ Manon geworden.

Berg zeichnet das Porträt der jungen Manon, verpackt in einer zugänglichen und klangschönen Zwölftonreihe ihre Wesenszüge, ihr krankheitsbedingtes Leid und den Tod. Dabei möchte man sich keinen anderen Erzähler dieser traurigen Geschichte vorstellen als die Violine und an diesem Abend Vadim Gluzman. Sein Spiel ist unschuldig und verspielt, neckisch und übermütig, aber auch feurig, entschlossen und mächtig. Außer Frage steht dabei, dass er sein Instrument beherrscht. Viel wichtiger: die menschlichen Emotionen, die aus seinem Spiel erklingen.

Wie dicht geknüpfte Bänder orchestriert Berg einzelne Stimmgruppen, die mal miteinander, mal abstrakt und halsbrecherisch gegeneinander agieren. Klar geschnittene, andächtige Soli stehen gegen ein zuweilen tumultartiges, irres Aufbäumen im Kollektiv. Das ist Musik, die unter die Haut geht.

Überlagernd, dann wieder frei entwirrt umspülen die vielen Orchesterstimmen immer wieder den Solisten, der fest in ihrer Mitte steht. Lintu ist da oftmals gefordert, doch das Zusammenspiel aller gelingt, wirkt ob der rhythmischen Komplexität angespannt, aber musikalisch stets überzeugend.

Die Pause kommt dann vielen gelegen – mit einem Glas Crémant und den Worten, man müsse jetzt „die Zwölftonmusik erst einmal hinunterspülen“ prostet man sich in den von einem dramatischen Sonnenuntergang beleuchteten Gängen gegenseitig zu.

Entstanden während des Ersten Weltkrieges, thematisiert Nielsens Sinfonie Nr. 4 mit dem Beinamen „Das Unauslöschliche“ musikalisch den existenziellen Kampf und den Glauben an das „unauslöschliche“ Leben: „Musik ist Leben und unauslöschlich wie dieses“, so der dänische Komponist im Vorwort der Partitur. Willensstark, energisch, resistent, ja zuweilen harsch und versperrt erklingt die Musik.

Gleich im Kopfsatz geht es dermaßen wild und stürmisch los, dass man sich als Zuhörer schnell haltsuchend „umhört“. Spät erst erklingt so etwas wie ein Thema in den Klarinetten, vielmehr dominieren fortwährend tonale und rhythmische Unruhen das Klangbild. Schroff werden Phrasen geschnitten, hart und prägnant immer und immer wieder eingesetzt. Nielsen komponierte hier eine musikalische Gradwanderung in tonaler, formaler und ästhetischer Hinsicht.

Im zweiten Satz (alle vier Sätze gehen nahtlos ineinander über) entfaltet sich ein deutlich friedlicheres Intermezzo von anrührender Schlichtheit: fast alleine bestimmen wunderbar organisch agierende Holzbläser das Geschehen. Doch nicht lange währt der Friede: kurios spielen die Streicher über weite Passagen des dritten Satzes ohne Bogen zupfend und Saiten-pickend ein leidenschaftliches Adagio.

Wieder mit Bogen ausgestattet und mit beeindruckender Präzision leitet ein furioses Streicher-Fugato das Finale ein. Absolut hörenswert hier: zwei Paukenpaare liefern sich wilde Duelle. Das hat einen fantastischen Stereoeffekt und markiert beispielhaft das „Unauslöschliche“ der menschlichen Willenskraft.

Kraftvoll stellen die Orchesterspieler diese Willenskraft auch bildhaft dar: bei ausbrechenden, starken Phrasen in der Musik bewegen sich die Oberkörper der Streicherinnen und Streicher synchron gen Mitte, einem Herzmuskel der Musik gleich, der pulsierend von den eigenen inneren Dynamiken lebt.

Lintu zeigt auch hier, dass er mit nur wenigen Proben eine gute Verbindung zum NDR Elbphilharmonie Orchester gefunden hat. Und das NDR Elbphilharmonie Orchester zeigt sich einmal mehr von seiner Schokoladenseite – professionell und souverän sowohl im flexiblen Umgang mit Konzertprogrammen als auch in der Interpretation von nicht zu unterschätzenden und höchst interessanten Werke.

Ricarda Ott, 19. Mai 2017 für
klassik-begeistert.de

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