Foto: © Wilfried Hösl
Nationaltheater München, 12. November 2019
Alice im Wunderland, Ballett in drei Akten nach einer Erzählung von Lewis Carroll
Choreographie: Christopher Wheeldon
Musik: Joby Talbot
Libretto: Nicholas Wright
von Barbara Hauter
Die Münchner „Alice“ ist magisch. Fast drei Stunden wird einem der Kopf verdreht von einer Zauberwelt, die bevölkert ist mit Grinsekatze, Märzhase, Siebenschläfer, tanzenden Bäumen, wild gewordenen Spielkarten und einem steppenden verrückten Hutmacher. Temporeich, bunt, fantasievoll, liebevoll-aufwändig ausgestattet – schöner und witziger kann man die berühmte Geschichte von Lewis Carroll kaum erzählen.
Alice, zart und unschuldig getanzt von Laurretta Summerscales, langweilt sich auf der Gartenparty ihrer gestrengen Mutter – ganz im viktorianischen Setting vor einem beeindruckenden Herrenhaus inszeniert. Mit dem Blitzlicht des Fotografen friert die Szene ein. Der Lichtbildner, mit viel ausdrucksvoller Gestik getanzt von Javier Amo, verwandelt sich in das weiße Kaninchen und Alice stürzt ihm hinterher durch den Boden der Fototasche. Eine psychodelische Lichtprojektion ihres Sturzes durch die Röhre zieht einen mit hinein in diese andere Welt, in der alle Figuren der Party als Fantasiewesen wiederauftauchen. Mit einem wahren Ausstattungsfeuerwerk voller witzig absurder Ideen für Requisite und Kostüme beginnt Alice ihre Reise durch ihr Wunderland.
Die Tänzer der Fantasiewesen sind dabei nicht nur technisch im Höchstmaß gefordert, die Rollen verlangen nach Schauspielkunst. Allen voran die von Alice. Sie ist fast nonstop auf der Bühne und führt durch die magische Welt. Sie isst vom „Iss mich Kuchen“ und Summerscales spielt das Anwachsen zu einer Riesin perfekt aus, sie trinkt aus dem „Trink mich Fläschchen“ und Alice tanzt sich zu einer Zwergin.
Fisch und Frosch starten zu einem absurden Rennen während eine unsinnige Riesenuhr rückwärtsläuft. Dann führt uns Alice in eine alptraumhafte Szene. Hinter dem Stickbild „Home sweet home“ werden Schweine blutig geschlachtet und verwurstet. Die Grinsekatze taucht auf, mit den Mitteln des schwarzen Theaters als tanzende Puppe gespielt.
Das Ballett bedient sich munter bei allem, was die Theaterkunst so hergibt, um die Zauberwelt auszugestalten. Der verrückte Hutmacher (Jeremy Rucker im gelungenen Rollendebüt) – auf der Gartenparty noch zaubernder Gast – steppt ein wildes Stakkato auf einer kleinen Theaterbühne mit dem viktorianischen Herrenhaus als Kulisse. Und der Radscha der indischen Gast-Delegation taucht als blaue Riesenraupe (Henry Grey) in Alice‘ Fantasiewelt wieder auf. Er robbt so geschmeidig über den Bühnenboden, dass er wie der steppende Hutmacher stürmischen Szenenapplaus erntet.
Alice‘ Mutter wandelt sich in die bösartige Herzkönigin. Elisa Mestres spielt und tanzt eine ebenso komische wie gnadenlose Herrscherin, die in ihrem rollenden Herzpanzer ständig Exekutionen einfordert. Sie entsteigt ihrem Käfig, um den lustigsten Tanz des Abends hinzulegen: die Parodie des Rosenadagios aus Tschaikowskis Dornröschen-Ballett. Viel Witz auf Spitze!
Die Musik klingt nach Tschaikowski an dieser Stelle. Sie wurde von Joby Talbot aber extra für das Ballett geschrieben. Sie ist mal treibend, dann wieder walzerselig, immer aber percussion-betont und vor allem opulent: Das Orchester muss für Alice in die Logen hinein erweitert werden. Und auch das Ballettensemble reicht kaum aus für diese Choreographie von Christopher Wheeldon: 65 Protagonisten stehen auf der Bühne. Da müssen auch Tänzer aus dem Junior Ballett und von der Tanzakademie ran.
Die ganz Kleinen spielen herzallerliebste Igelchen, die die böse Königin als Kugeln für ihr Krocket-Spiel missbraucht. Als Schläger dienen ihr zierlich getanzte Flamingo-Damen. In ihrer grausamen Raserei will sie den Herzbuben (Dmitrii Vyskubenko) köpfen lassen, den Alice liebt und die ganze Zeit über schützt.
Doch in diesem Moment wacht Alice auf – die Reise durch das Wunderland entpuppt sich als Traum. Und auch als Zuschauer braucht man einen Moment, um in die Realität zurück zu kommen. Fazit: Traumhaft schön, bombastisch, kitschig, fantastisch, mitreißend, witzig. Unbedingt ansehen.
Barbara Hauter, 13. November 2019, für
klassik-begeistert.de
Alice: Laurretta Summerscales
Jack/Der Herzbube: Dmitrii Vyskubenko
Lewis Carroll/Das weiße Kaninchen: Javier Amo
Mutter/Die Herzkönigin: Elisa Mestres
Vater/Der Herzkönig: Norbert Graf
Zauberer/Der verrückte Hutmacher: Jeremy Rucker (Rollendebüt)
Alices Schwestern: Marta Navarrete Villalba, Vera Segova
Radscha/Die Raupe: Henry Grey
Die Herzogin: Robin Strona
Vikar/Der Märzhase: Stefano Maggiolo
Kirchendiener/Der Siebenschläfer: Madeleine Dowdney
Die Köchin: Mia Rudic
Lakai/Fisch: Konstantin Ivkin
Lakai/Frosch: Dukin Seo
Butler/Der Henker: Krzysztof Zawadzki
Drei Gärtner: Vladislav Dolgikh, Ariel Merkuri, Sergio Navarro
Charaktere aus dem Wunderland
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Junior Ballett München
Studierende der Ballett-Akademie München
Opernballett und Kinderstatisterie der Bayerischen Staatsoper
Bayerisches Staatsorchester
Musikalische Leitung: Myron Romanul
Bühne und Kostüme: Bob Crowley
Licht: Natasha Katz
Projektionen: Jon Driscoll, Gemma Carrington
Original Sounddesign: Andrew Bruce
Puppenkonzept und -design: Toby Olié
Magic Consultant: Paul Kieve