Seit Jahren kann man im Internet bereits am Tag des Konzerts das Cover der wenig später erscheinenden CD bewundern – und die Silberscheibe bestellen. Eine Lizenz zum Gelddrucken. Gespannt wartet man in Wien auf die Verkündung des Dirigenten für das Konzert 2021. Nach dem Neujahrskonzert ist vor dem Neujahrskonzert!
von Peter Sommeregger
Als der lettische Stardirigent Andris Nelsons an diesem Neujahrsmorgen 2020 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins den Stab zum Auftakt des traditionellen Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker hebt, reiht er sich in eine Kette berühmter Vorgänger ein.
Dieses Konzert, inzwischen seit vielen Jahren auch über Rundfunk und Fernsehen weltweit übertragen, hat seinen Ursprung allerdings in einer für Österreich eher dunklen Zeit. Genauer gesagt, der Staat Österreich existierte im Jahr 1939 nach dem „Anschluss“ an Großdeutschland nicht mehr. Dafür tobte seit dem 1. September der Zweite Weltkrieg. Das von Clemens Krauss am 31. Dezember geleitete Konzert wurde zugunsten des Kriegswinterhilfswerks veranstaltet. Ab dem Jahr 1941 fand es dann am 1. Jänner (wie der Österreicher sagt) als Johann-Strauss-Konzert statt. Der Dirigent blieb während der Kriegsjahre Clemens Krauss, dem man nicht zu Unrecht eine große Nähe zu den Nationalsozialisten nachsagte. Diese trug ihm nach dem Krieg ein zweijähriges Berufsverbot ein, am Pult stand an seiner Stelle Joseph Krips, der aus der Emigration zurückgekehrte Dirigent wurde in dieser Zeit auch für die Wiener Oper eine feste Größe.
Bereits 1948 übernahm Clemens Krauss erneut die Leitung dieser Konzerte, die nahtlos von der „Ostmark“ in das wieder erstandene Österreich übernommen wurden. Erst Krauss‘ unerwarteter und früher Tod im Mai 1954 beendete diese Tradition. Die Konzerte wurden schließlich vom damaligen Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Willi Boskovsky übernommen, der zunächst nur als Notlösung zu dieser Ehre kam. Nach dem großen Erfolg des ersten Konzerts unter seiner Leitung blieb er für 25 Jahre der Dirigent an der Spitze „seines“ Orchesters.
Ab dem 1. Jänner 1980 übernahm dann Lorin Maazel für sieben Jahre diese Aufgabe, die ihm besser gelang, als seine kurze, glücklose Direktion der Wiener Staatsoper. Ab 1987 entschloss sich das Orchester, den Dirigenten des Traditionskonzerts jährlich neu zu bestimmen. Herbert von Karajan leitete 1987 ein denkwürdiges Konzert, das erste übrigens, in dem eine Gesangsolistin auftrat: Kathleen Battle sang den „Frühlingstimmen-Walzer“ von Johann Strauss II.
In der Folge gab es aber auch immer wieder Dirigenten, die mehrfach eingeladen wurden: so dirigierte Claudio Abbado die Konzerte 1988 und 1991, Carlos Kleiber 1989 und 1992, Zubin Mehta verpflichtete man ganze 5 mal (1990,1995,1998,2007,2015), ebenso Riccardo Muti ( 1993,1997,2000,2004,2018). Lorin Maazel kehrte noch vier mal, nämlich 1994,1996,1999 und 2005 ans Pult zurück. Nicolaus Harnoncourt dirigierte die Konzerte 2001 und 2003, Seiji Ozawa 2002, der kürzlich verstorbene Mariss Jansons in den Jahren 2006,2012 und 2016. 2008 und 2010 stand der Franzose Georges Pretre am Pult, Daniel Barenboim leitete die Konzerte 2009 und 2014, Franz Welser-Möst jene der Jahre 2011 und 2013. In den letzten Jahren dirigierten auch erstmals Gustavo Dudamel (2017) und Christian Thielemann (2019).
Über die Jahre ist zwar das Repertoire dieser Konzerte im Wesentlichen gleich geblieben, aber die Kommerzialisierung dieses „Events“ lässt es allmählich immer stromlinienförmiger erscheinen. Der Rundfunk war von Beginn an dabei, es folgte das schwarz/weiß Fernsehen, abgelöst vom Farbfernsehen, das die Schönheit des berühmten goldenen Konzertsaals um die Welt schickte. Für den Geschmack Vieler verzichtbar, aber eine Konzession an das Medienzeitalter sind die manchmal etwas bemüht wirkenden Ballett-Einblendungen.
Auch die Schallplatte ging an dieser glamourösen Veranstaltung nicht vorbei, schön früh erschienen Mitschnitte der Konzerte, zuerst auf Vinyl, inzwischen längst auf CD. Die Firmen wetteifern mit der Schnelligkeit der Veröffentlichung, seit Jahren kann man im Internet bereits am Tag des Konzerts das Cover der wenig später erscheinenden CD bewundern – und die Silberscheibe bestellen. Eine Lizenz zum Gelddrucken. Gespannt wartet man in Wien auf die Verkündung des Dirigenten für das Konzert 2021. Nach dem Neujahrskonzert ist vor dem Neujahrskonzert!
Peter Sommeregger, 1. Januar / Jänner 2020 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .