von Dr. Andreas Ströbl
Foto: Stefan Vladar, (c) Lukas Beck
Ebensowenig wirksam wie Kundrys Balsam aus Arabia gegen Amfortas´ Leiden ist bislang jeder verfügbare Impfstoff gegen das, was unser Leben spätestens seit Mitte März bestimmt und wirklich jede Nachrichtensendung dominiert. Gegen die Traurigkeit, was wir an Opern und Konzerten, auf die wir uns oft monatelang gefreut haben, nicht erleben können, hilft nur bedingt die Hoffnung, dass es irgendwann im Laufe des Sommers vielleicht wieder einen normalen Kulturbetrieb geben wird. Wie das Beethoven-Jahr weitergeht, ob das Schleswig-Holstein Musik Festival wie geplant stattfinden kann, was aus den Musikfestspielen Mecklenburg-Vorpommern wird – all das steht in Sternen, über die nicht mal ein Horoskop vage Auskunft zu geben vermag. Ostern ohne „Parsifal“ ist wirklich schon herb genug, und an einen Sommer ohne Bayreuth mag man am liebsten gar nicht denken.
Was bleibt, ist fürs erste die Erinnerung an das, was es bis vor kurzem noch selbstverständlich gegeben hat. In Lübeck hatte sich der neue GMD Stefan Vladar seit dem Herbst gerade mal warmgelaufen, und seine mitreißende Wiener Leidenschaft ist wie das übrige so lebendige Musikleben in der „Königin der Hanse“ auf Eis gelegt. Die Lübecker Oper spielt seit Jahren in der Ersten Liga und Vladar hat seit seinem Einstand im September 2019 die Lübecker Philharmoniker auf ein Niveau gebracht, das auch die Musiker selbst erstaunt.
Eine der Sternstunden der Liebesheirat des Orchesters mit seinem neuen Dirigenten, der nun auch Operndirektor ist, war das 2. Symphoniekonzert der Spielzeit 2019/20 am 20. und 21. Oktober 2019 in der „MuK“ (Musik- und Kongresshalle). Auf dem Programm stand der „Blumine“-Satz aus Gustav Mahlers 1. Symphonie, den der Komponist selbst wieder gestrichen hatte, ebenso wie den Titel des Werks, „Titan“. Dann folgten seine „Kindertotenlieder“ und nach der Pause Schostakowitschs 5. Symphonie.
Auch viele Mahler-Kenner wissen nicht so recht etwas mit dem offenbar programmatischen Namen „Blumine“ anzufangen. Tatsächlich ist das eine etwas bemühte Verdeutschung von „Flora“, der Blumengöttin. Mahler hatte diese Bezeichnung von Jean Paul, dessen Bücher er mit Hingabe las, übernommen. Das Thema des Satzes, zumal mit der Trompete gespielt, schrammt hart am Kitsch vorbei und kommt ein bisschen wie ein vertonter Spitzweg daher. Das sagt jemand, für den Mahler ein musikalischer Gott ist. Aber Matthias Krebber spielte die Solotrompete so sensibel, dass der Satz, der die Symphonie als Ganzes schwächte, wunderbar für sich alleine stehen konnte.
Die „Kindertotenlieder“ sind harte Kost. Es gibt für Eltern nichts Schlimmeres als ein Kind zu verlieren, und das war auch in den vergangenen Jahrhunderten nicht anders, egal wie hoch die Kindersterblichkeit jeweils gewesen sein mochte. Friedrich Rückert, der die Texte schrieb, verlor zwei seiner Kinder, Mahler eines. Angelika Kirchschlager sang den Zyklus nicht nur, sie gab der entsetzlichen Trauer, dem unstillbaren Schmerz einen so tiefempfundenen Ausdruck, dass man den Eindruck hatte, diese Lieder zum ersten Mal zu hören. Im abschließenden „In diesem Wetter, in diesem Braus“ sang und spielte die Mezzosopranistin die ohnmächtige Anklage fast wütend, mit unprätentiöser Überzeugung. Wer diese Lieder ohne Rührung hören kann, ist gefühlstot. Und viele Lübecker mussten erstmal hörbar schlucken, bevor sie sich zu einem begeisterten Applaus hinreißen ließen. Mahler wollte eigentlich gar keinen Beifall nach diesen Liedern, aber Frau Kirchschlager musste zu Recht mehrfach wieder auf das Podium.
Schostakowitschs 5. Symphonie hatte es in Lübeck bereits knapp drei Monate zuvor im Rahmen des „Schleswig-Holstein Musik Festivals“ unter Susanna Mälkki gegeben, die für den erkrankten Mariss Jansons eingesprungen war. Ihre kraftvoll-leuchtende Interpretation schien bereits nicht überbietbar, aber Vladar hatte noch eins draufgelegt.
Der „Sozialistische Realismus“, den das Werk als schützende Maske gegen den Stalin-Terror vor sich trägt, war auch bei der Uraufführung 1937 nur für „komplette Trottel“, wie Schostakowitsch selbst schrieb, unironisch wahrnehmbar. Aber von diesen Trotteln gab es reichlich, und sie waren lebensgefährlich. Glücklicherweise waren Stalin und seine Schergen unsensibel genug, um diese Musik nicht als Hohn-Jubel zu verstehen. Schostakowitsch hat Mahler sehr geliebt, das hört man auch dieser Symphonie an. Gerade die Ländler-Zitate im zweiten Satz sind eben in ihrer Ironie auch ein Gruß an den großen Gustav, und hinter dem scheinbar strahlenden Finale lauert, wie oft auch bei Mahler, die Katastrophe.
Die ungemein differenzierte Wiedergabe dieser farbenreichen Symphonie mit all ihren Brechungen und schroffen Wechseln auch innerhalb der Sätze zeigte, wozu das Philharmonische Orchester der Hansestadt in der Lage ist, wenn es mit einem Dirigenten wie Stefan Vladar zusammenarbeitet. Die ersten „Bravo“-Rufe schallten schon eine Sekunde nach den letzten Klängen durch die Halle – der brandende Applaus war absolut angemessen.
So möchte man wieder klatschen und „Bravo!“ rufen dürfen, gemeinsam von den Sesseln aufspringen und große Kunst feiern. Wenn wir uns alle in Geduld üben und uns noch eine Weile auf die Intimität der privaten Kammermusik reduzieren, dann wird sich das alles wieder ereignen dürfen. Auch wenn der Karfreitag fern des Zaubers verstrich – nächstes Ostern läuten wieder die Gralsglocken!
Dr. Andreas Ströbl, 10. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at