„Auch in dem Alten hört man immer wieder Neues heraus. Die Wirkung ist umwerfend: ‚Leonore’ ist dramatisch dicht, kurzweilig und geradezu unspießig modern.“
CD Besprechung: „Leonore“ – harmonia mundi, Limited Edition 2019
Live-Aufnahme aus der Philharmonie de Paris vom 7. Novemver 2017
Leitung: René Jacobs
von Dr. Holger Voigt
„Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als beständig nach vollkommenen zu suchen, die es niemals geben wird.“ (Charles de Gaulle)
Die ‚Limited Edition’ dieser Doppel-CD kommt als geradezu bibliophile Buchbox im Hochformat daher, die CDs und das überarbeitete Libretto in deutscher, französischer und englischer Sprache beinhaltet. Hält man diese Box in den Händen, kommt man sich bereits als ‚beschenkt’ vor. Und in der Tat: Diese Box ist eine äußerst empfehlenswerte Geschenkgabe an Musikliebhaber zu jedem denkbaren Anlass. Doch das wahre ‚Geschenk’ befindet sich auf den CDs selbst, und dieses Geschenk ist ein ganz Gelungenes.
Ludwig van Beethoven hat sich mit dieser – seiner einzigen – Oper sehr schwer getan. Seine erste Fassung von 1805 (Uraufführung: 20. November 1805, Theater an der Wien) war ein glatter Misserfolg, und auch einer revidierten Fassung aus dem Jahr 1806 erging es nicht viel anders (29. März 1806, Theater an der Wien). Immer wieder suchte Beethoven nach neuen Ansatzpunkten, um seinen eigenen künstlerischen Ansprüchen vollumfänglich gerecht werden zu können. Dies zog sich über fast 10 Jahre dahin, bis endlich 1814 mit „Fidelio“ eine Fassung das Licht der Welt erblickte, die sich fortan erfolgreich durchsetzen konnte (23. Mai 1814, Wiener Kärntnertortheater).
Man darf dabei aber nicht vergessen, dass sich die historischen Lebensbedingungen um Beethoven herum in diesen Jahren ständig änderten. Zwischen Revolution, Aufklärung und monarischer Machtpolitik wurde Wien mehrfach französisch besetzt (14. November 1805, 11.Mai 1809), was dazu führte, dass das Opernpublikum ganz vorwiegend aus französischen Regimentssoldaten bestand, die sich auf der Bühne ansehen und anhören mussten, dass Macht und Militär von einer Frau allein durch die Kraft der Liebe zu brechen sind. Kein Wunder, dass die Erstfassungen floppten, der Zeitgeist war noch lange nicht so weit, wie es Beethoven vorgab. Und dann war da ja auch noch das Problem der Zensur, die jegliche künstlerische Aufführung reglementierte. So kam es schließlich dazu, dass als ‚Leonore’ – Beethovens Idealvorstellung einer Frau – das männliche Alter Ego ‚Fidelio’ die Opernbühne betrat.
Die Urfassungen – ‚Leonore I’ (1805) und ‚Leonore II’ (1806) sind bis heute erhalten, werden aber so gut wie nie zur Aufführung gebracht. Dabei sind sie musikalisch voller dramatischer Wucht und kompositorischer Kraft des damaligen Mittdreißigers. Insgesamt gibt es allein 3 ‚Leonoren’-Overtüren nebst einer weiteren für ‚Fidelio’. Beethoven tat sich also immer wieder außerordentlich schwer damit, sich für eine endgültige Version zu entscheiden.
Ludwig van Beethoven, Fidelio, Bayerische Staatsoper, München, 24. Januar 2019
Jeder von uns kennt das: Wenn wir uns entscheiden müssen und mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, dann fährt man oft am besten, wenn man sich für die erste Möglichkeit entscheidet, denn diese ist originär und noch nicht durch Bedenken verstellt: Sie steht der Intuition am nächsten und bildet den vorangegangenen Schöpfungsprozess unverfälscht ab. Die psychologische Forschung hat diesen Zusammenhang in zahlreichen Studien belegen können: Die erste Wahl ist oft die beste. Denn sie resoniert am stärksten.
Genau so scheint es auch der 1944 in Gent geborene belgische Counter-Tenor und Dirigent René Jacobs zu sehen, der sich durch seine Erfahrungen auf dem Gebiet der „Alten Musik“ hier einer ganz ähnlichen Herausforderung gegenübergestellt sah. Das Rad zurückzuspulen und dabei unermeßliche Schätze entdecken zu können hat ihn dazu bewogen, die Erstfassung ‚Leonore’ in einer geradezu referenziellen Einspielung zu dokumentieren. Was dabei herausgekommen ist, ist eine wahre Sensation!
Man hört und staunt. Immer dann, wenn man meint, sich im bekannten ‚Fidelio’-Universum zu befinden, wird man eines Besseren belehrt. Man hört Neues, und auch in dem Alten hört man immer wieder Neues heraus. Die Wirkung ist umwerfend: ‚Leonore’ ist dramatisch dicht, kurzweilig und geradezu unspießig modern, wozu die textliche Bearbeitung des Librettos ganz wesentlich beiträgt.
Die vom Dirigenten gewählten Tempi erhöhen zwar die technischen Anforderungen an die SängerInnen, werden aber von diesen spielend und sogar ‚spielerisch’ gemeistert. Es entsteht ein schlanker, graziler Fluss der Musik, der den Text viel passender auf die Musik ausrichtet. Die tragische Wucht des Dramas wird auf diese Weise beweglich gemacht und verliert ihre statische Monumentalität. Auf einmal ist es ein spannender Thriller, der sich da unseren Ohren darbietet.
Ludwig van Beethoven, Fidelio, Oper Halle, 15. November 2017
Hervorragend und ohne jeden Abstrich brilliant sind alle GesangssolistInnen, allen voran Marlis Petersen (Leonore) und Maximlian Schmitt (Florestan).
Marlis Petersen findet immer die richtige Balance zwischen Dramatik und ausdrucksstarker Sensitivität. So etwas ist hohe Kunst, der man nur applaudieren kann. Für Maximilian Schmitt gilt praktisch das Gleiche. Eine wunderbare, warm timbrierte, lyrische Tenorstimme, die sich jederzeit und übergangslos in dramatische, heldentenorale Intensität und Farbe verändern kann, dabei nie forciert klingt und scheinbar mühelos schlank und beweglich bleibt.
Mit Robin Johannsen ist die Sopranrolle der Marzelline bestens besetzt: Hell, klar, beweglich, witzig. In ihrem Duett mit Leonore wird deutlich, wie unterschiedlich, aber harmonisch zueinander passend, zwei gesonderte Sopranstimmen klingen können.
Sowohl der „Gute“ (Rocco: Dmitry Ivashchenko) als auch der „Böse“ (Don Pizarro: Johannes Weisser) zeigen hervorragende stimmliche Qualitäten, klingen dabei nie forciert oder angestrengt. Rocco spricht im Übrigen tagesübliches Umgangsdeutsch…
Der Chor (Zürcher Sing-Akademie) drängt sich nie zu sehr in den Vordergrund und leistet Hervorragendes. Das gilt schließlich auch für das wunderbare Orchester (Freiburger Barockorchester), das sowohl wuchtige Dramatik als auch zurückgenommene Intimität erzeugen kann, die auch von der Tonaufzeichnung her sehr ohrnah zu bewundern ist. Höhepunkt für mich ist ein nie zuvor gehörtes Sopran-Duett Leonore/Marzelline, das von einer Solo-Violine begleitet und gespiegelt wird. Warum nur hat Beethoven dieses hinreißende Duett nicht in den ‚Fidelio’ hinein gerettet?
Auch die beiden großen Arien der Hauptprotagonisten Leonore und Florestan erklingen vollkommen anders. Weniger exklamativ, doch von großer Intensität und Spannung. Der Jubelchor am Ende des Werkes scheint weniger explosiv als im ‚Fidelio’ zu sein, vermittelt aber umso ernsthafter Beethovens Kernaussage „Freiheit durch Liebe“. Ihm ging es also nicht um „Freiheit“ als Wert an sich (sog. „Befreiungsoper“), sondern um deren Erlangung durch die Kraft der Liebe. Beethoven ist also ein Botschafter der Liebe und diese Erkenntnis lässt uns jubeln.
Zu dieser CD kann man die Ausführenden und harmonia mundi nur beglückwünschen. Unbedingt hören! 6 Sterne von 5 möglichen.
Dr. Holger Voigt, 15. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ersteinspielung einer Rarität, Jules Massenet, Don César de Bazan, CD-Besprechung
Marlis Petersen, Sopran (Leonore)
Dimitry Ivashchenko, Bass (Rocco)
Maximilian Schmitt, Tenor (Florestan)
Robin Johannsen, Sopran (Marzelline)
Johannes Weisser, Bariton (Don Pizzaro)
Tareq Nazmi, Bass (Don Fernando)
Johannres Chum, Tenor (Jaquino)
Matthias Klosinski, Tenor (Hauptmann)
Florian Feth, Tenor (Erster Gefangener)
Julian Popken, Bass (Zweiter Gefangener)
Zürcher Sing-Akademie
Leitung: Florian Helgath
Freiburger Barockorchester
Leitung: René Jacobs, Konzertmeisterin: Anne Katharina Schreiber
harmonia mundi, DDD, 2019
Limited Edition – Erscheinungstermin: 17. Juli 2020
Serie: hm Edition Beethoven 2020/2027