Melancholisch und gebremst: Riccardo Muti überrascht mit Beethovens Neunter

Melancholisch und gebremst: Riccardo Muti überrascht mit Beethovens Neunter,  Salzburger Festspiele, 17. August 2020

Foto: Riccardo Muti. © Silvia Lelli / www.riccardomuti.com

„Beethoven resignierte nie. Er schuf aus tiefstem Leid leuchtende Musikgemälde eines nicht enden wollenden Optimismus. So einen Beethoven hat dieser Abend nicht gezeigt.“

Salzburger Festspiele 2020, Großer Festspielhaus
LiveStream, 17. August 2020

Ludwig van Beethoven: 9. Sinfonie in d-Moll op. 125

Asmik Grigorian (Sopran)
Marianne Crebassa (Alt)

Saimir Pirgu (Tenor)
Gerald Finley (Bass)

Wiener Philharmoniker, Leitung: Riccardo Muti

Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Einstudierung: Ernst Raffelsberger

von Dr. Holger Voigt

Bei Riccardo Muti ist – insbesondere in seiner kongenialen Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern – alles bis ins kleinste Detail durchdacht und strukturiert. Hier dirigiert nicht einfach ein Dirigent ein Orchester, schon gar nicht eines der Kategorie der Wiener Philharmoniker. Hier zelebriert vielmehr eine verschworene Musikergemeinschaft das letzte sinfonische Werk des Titanen der Klassik. Kaum ist der letzte Ton verklungen, steigt Riccardo Muti vom Dirigentenpodest herab und stellt sich an die Seite des Konzertmeisters. Eine sehr schöne Geste des allseits verehrten Maerstro, der sich selbst stets als Dienenden an der Musik und den Musikern sieht – trotz allen Kultes um seine Person.

Diese Aufführung der Neunten war ein grandioses Signal in Zeiten der pandemischen Verunsicherung, ein wahres Klangfest zum 100. Geburtstag der Festspiele. Am Schluß gab es allseitige Begeisterung und Standing Ovations.

Doch etwas war anders am heutigen Abend. Diese Aufführung der Neunten hinterließ fraglos einen veränderten Stimmungseindruck, und es kann davon ausgegangen werden, dass dieses auch so beabsichtigt gewesen war. Am Ende gab es zwar „Freude“ („Freude schöner Götterfunken“), aber nicht die eines „Jauchzet frohlocket!“. Leichtigkeit war nur mit Anstrengung verspürbar. Diese Neunte kam getragen und schwermütig daher.

© SF / Marco Borrell

Erster Satz: Allegro ma non troppo, un poco maestoso
Dauer: 17:54 Minuten

Aus einem brodelnden Urmeer der Streicher und Holzbläser und einem 2-Ton-Motivfetzen der Streicher, auf das immer wieder rekurriert wird, steigen blitzartig Akkorde mit dynamisch zugespitzten Orchesterschlägen auf und schaffen eine hochdramatische, fast unheilvolle Ausgangsatmosphäre. Aus den fragmentarisch erscheinenden Segmenten entwickelt sich das thematische Material und wird über die einzelnen Instrumentengruppen hinweg geführt. Die einzelnen Themen werden nun erkennbar und von Streichern und Holzbläsern ausgeführt, wobei hier bereits auffällt, dass in den nicht-dramatischen Abschnitten das Tempo deutlich zurückgenommen ist.

An den dynamischen Zuspitzungen, deren Grundlage das 2-Ton-Motiv des Anfangsteils ist, erhöht Muti Tempo und dynamische Expression, in dem er einen gewaltigen Schlagwerk-Teppich erzeugt, der fast alle anderen Instrumente an die Wand drängt – die Welt scheint in Aufruhr. Zwischendurch immer wieder ein Rückzug zu Vorigem; Streicher und Holzbläser verarbeiten das Material stets wieder aufs Neue und bremsen den Fluss der Musik aus. Dabei werden in diesen Abschnitten Anteile hörbar, die man sonst selten zu Gehör bekommt, da sie im Gesamtklang des Orchesters untergehen.

Beethoven scheint sich unschlüssig gewesen zu sein und den Hörer direkt an seinem Entscheidungsprozess teilnehmen lassen zu wollen. Er kommt immer wieder zurück, bevor er vorangeht. Ist es eine Form kompositorischer Eigenzitate? Gegen Ende des Satzes lassen sich ja deutlich Trauermarschanteile vernehmen (Eroica?), bevor dann in der finalen Schlusswendung der Satz mit Beethovenscher Entschlossenheit zu Ende gebracht wird. Ein aufbrausendes Feuerwerk voller Dynamik: Das ist Beethoven pur, eine Eruption des Anderen, des Neuen. Stets aber mit Bezug zu Vorangegangem. Es ist ein künstlerischer Findungsprozess, dem wir hier lauschen können: Es deutet sich eine neue, andere Lesart der Sinfonik Beethovens an. Er will die Grenzen sprengen.

Riccardo Muti, Wiener Philharmoniker, Salzburger Festspiele 2020, Großes Festspielhaus

Zweiter Satz: Molto vivace – Presto
Dauer: 12:57 Minuten

Der zweite Satz – Presto überschrieben – ist mit einer Spieldauer von knapp 13 Minuten beileibe nicht ‚presto’ zu nennen. Aus dem fugiert einsetzenden, zurückgenommen gespielten Streicherthema, dessen Hauptqualität die Rhythmuserzeugung ist, entsteht das für diesen Satz prägende Reitermotiv. Dieses kommt aber hier und heute abend nicht in Form einer Kavallerie daher, sondern erinnert eher an eine Hofreitschule. Überhaupt klingt alles in diesem Satz nicht bewegt oder beweglich, sondern formal-statisch, höfisch-aristokratisch und geordnet-feierlich. Kann das von Beethoven so gemeint gewesen sein – er, der mit der höfischen Welt längst abgeschlossen hatte (so lange sie ihm kein Geld gab) und hinter dem Neuen her war?

Muti lässt die Wiener Philharmoniker einen ästhetisierten, gemächlichen Rhythmus einschlagen – oder ist es umgekehrt? Immerhin entstehen dadurch Räume, in denen Einzelinstrumente virtuos in voller Schönheit erklingen können (Flöte, Oboe, Horn), was sinfonischen Glanz entstehen lässt. Indes geht der propulsierende Fluss der Musik in dieser ausgebremsten Spielweise fast vollständig verloren. Wenn man sich den Ton wegdenkt oder am Bildschirm ausschaltet, teilt allein die Körpersprache der Wiener Philharmoniker mit: Hier geht es heute kontrolliert und gemütlich zu. Diese Optik ist in der Tat verwirrend: Wann hat man je dieses Orchester bei dieser Sinfonie so gesehen? Wollte Beethoven das tatsächlich so und nicht anders? Er hatte doch in seinen sinfonischen Werken eher viel schnellere Tempi vorgesehen, als in der gängigen Aufführungspraxis zum Einsatz kamen. Warum hier also so behäbig, und das dazu noch gerade unter Muti, dessen dynamische Explosivität legendär ist?

Riccardo Muti (Dirigent), Asmik Grigorian (Sopran), Marianne Crebassa (Alt), Saimir Pirgu (Tenor), Gerald Finley (Bass), Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker © SF / Marco Borrelli

Dritter Satz: Adagio molto e cantabile – Andante moderato
Dauer: 16:36 Minuten

Dem dritten Satz der Neunten, fraglos eine der wunderbarsten Tonschöpfungen der gesamten Musikliteratur, steht eine langsame Tempovorgabe eher gut zu Gesicht. Hier konnten die Wiener Philharmoniker somit in einem opulenten Klangteppich schwelgen, wobei die Zurücknahme in eine eher kammermusikalische Dimension von Vorteil war. Um mit Gustav Mahler zu sprechen, könnte man diesen Satz auch übertiteln: „Was mir die Liebe erzählt.“

Aber allzu langsam darf auch dieser Satz nicht gespielt werden, und grenzwertig ging es an diesem Abend durchaus zu. Der fast vollständig ertaubte Komponist hat diesen Satz als gesprochenen Dialog zweier Liebender angedacht, die sich in Frage und Antwort musikalisch mit eigenen Themen und deren gespiegelten Variationen begegnen. Und als Liebender spricht man nun mal nicht in Zeitlupe. Die Folge: Im hier gewählten, vorgetragenen Tempo entfernt sich die optimistische, zukunftsfreudige Grundstimmung zweier Liebender von ihrem Ausgangspunkt und bekommt eine eher melancholische Färbung. Das dürfte nicht der Intention Beethovens entsprechen, der ja mit der musikalischen Schlussphrase dieses Satzes seine optimistische, nach vorn gerichtete Entschlossenheit dokumentiert („Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiß nicht.“) Beethoven gab eben nie auf.

XXXI. Ravenna Festival, Eröffnung Riccardo Muti, Ravenna Festival

Vierter Satz: Finale: Presto – Allegro assai – Allegro assai vivace (alla marcia) – Andante maestoso – Adagio ma non troppo ma divoto – Allegro energico e sempre ben marcato – Allegro ma non tanto – Presto – Maestoso – Prestissimo

Dauer: 27:21 Minuten

Der abschließende vierte Satz schleppte sich über mehr als 27 Minuten dahin. Über weite Teile war auch er bei weitem zu langsam und wirkte völlig ausgebremst. Lediglich am Final-Ende erschien er geradezu dynamisch revitalisiert, was man den ausführenden ChorsängerInnen unmittelbar am Gesichtsausdruck ansehen konnte.

Nach dem Eingangsfortissimo werden durch aneinander gereihte musikalische Eingangszitate die bisherigen Hauptthemen kurz angespielt und unmittelbar durch Abbruch verworfen, wobei Streicher inklusive Kontrabässe bereits, wiederum in kammermusikalischer Zurücknahme, das musikalische Thema von Schillers ‚Ode an die Freude’ sich pianissimo entwickeln lassen.

Der Einsatz der Bassstimme bezeichnet auch sprachlich eine Abkehr vom Vorherigen („..nicht diese Töne!“). Stattdessen „freudenvollere“ anstimmen zu wollen, konnte ich allerdings doch nur sehr angedeutet wahrnehmen. Auf den Gesichtern war das nicht zu erkennen.

Der Chor sang technisch auf hohem Niveau wie ein Uhrwerk, und genau das wirkte unnatürlich klebrig. Die Texte wurden gesanglich außerordentlich lang ausgesungen, womit jegliche Dynamik und innere Spannung verlorenging. Es klang und wirkte auf einmal wie ein Oratorium oder gar ein Klagegesang.

Über weite Strecken lässt Muti das Orchester selbst spielen, aber an den Stellen, an denen es auch ihm zu langsam zu werden scheint, beginnt er mit rudernden Armbewegungen proaktiv nachzuhelfen.

Dynamisch legt die Aufführung nun endlich an Intensität und Bläserkraft zu. Das dritte „vor Gott“ aus „…und der Cherub steht vor Gott“ kommt in seiner korrekten Längenausdehnung, bevor die Generalpause einsetzt, um dann schließlich den türkischen Marsch nachfolgen zu lassen. Dieser kam allerdings wieder sehr gemütlich daher: Da war nichts „Zackiges“ dabei, was natürlich nicht ohne Auswirkung auf den Tenorpart bleiben konnte.

Riccardo Muti (Dirigent), Asmik Grigorian (Sopran), Marianne Crebassa (Alt), Wiener Philharmoniker © SF / Marco Borrelli

Das hochkarätig besetzte Gesangsquartett gehörte zu den herausragenden Erfahrungen dieses Abends: Hervorragende Technik, Sprachdeutlichkeit und Klangschönheit bei allen! Sie waren stets und deutlich für sich allein wahrnehmbar zu hören und nie gefährdet unterzugehen.

Quantitativ hatten die SolistInnen nicht viel zu singen, doch das, was sie vorzutragen hatten, hat es nun einmal in sich. Bassist Gerald Finlay zeigte eine bewegliche, klangschöne, dabei aber nicht abgründig tief angelegte Stimme. Saimir Pirgu meisterte seinen schwierigen Part mit höhensicherer Bravour. Asmik Grigorian (Sopran) und Marianne Crebassa (Alt) sangen ihre Partien in vortrefflicher Weise und in guter Abstimmung zu den anderen Stimmen, was auch optisch gut zu beobachten war.

Großer und begeisterter Applaus für alle Mitwirkenden. Ohne Frage, eine großartige Aufführung der Neunten. Doch kam sie mir so vor, als säße Beethoven kurz vor seinem Tod auf der Bettkante und gäbe sich remineszierenden Tagträumen hin, in denen er verpassten Möglichkeiten hinterhertrauert: „Ja, so hätte es alles werden und sein können“. Aber das wäre nicht der uns bekannte, nie verzagende Beethoven. Beethoven resignierte nie. Er schuf aus tiefstem Leid und Verzweiflung leuchtende Musikgemälde eines nicht enden wollenden Optimismus. So einen Beethoven hat dieser Abend nicht gezeigt.

Dr. Holger Voigt, 19. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Barenboim, West Eastern Divan Orchestra, Salzburger Festspiele, 16. August 2020

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert