Xavier de Maistre und Martina Gedeck auf der Suche nach Innigkeit und Intimität

Xavier de Maistre und Martina Gedeck auf der Suche nach Innigkeit und Intimität  Elbphilharmonie Hamburg, 29. August 2020

Foto: © Maxim Schulz

Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 29. August 2020

Xavier de Maistre, Harfe
Martina Gedeck, Rezitation

Intimität und Ekstase, die knisternde Spannung eines vollen Saals: Wie viel davon lässt sich herüberretten in die kühle Vernunft der luftigen Distanz bei knapp einem Drittel Platz-Auslastung? Es sind mit Sicherheit nicht nur und vielleicht noch nicht einmal vorrangig künstlerische Maßstäbe, an denen ein solcher Abend gemessen werden sollte.

von Guido Marquardt

Das Schleswig-Holstein Musik Festival SHMF ist seit mehr als 30 Jahren eine Institution im Norden. Beeindruckend, wie sich Jahr für Jahr die wechselnden großen Themenklammern, die Liebe zum Detail und die Bespielung von Orten fern der üblichen hochkulturellen Zentren zu einem stimmigen Ganzen fügen.

Tapfere Bemühungen im „Sommer der Möglichkeiten“

Und nachdem klassik-begeistert.de im letzten Jahr noch umfassend berichtet hatte, verfolgten wir 2020 nur aus der Ferne, aber mit größter Sympathie die tapferen Bemühungen des SHMF. Mit seinem kurzerhand in „Sommer der Möglichkeiten“ umgetauften, nahezu improvisierten Programm (wenn man die sonst üblichen Vorlaufzeiten betrachtet), schaffte es das Team um Intendant Christian Kuhnt, mehr als 100 Aktionen zu lancieren. Ob neue Konzertformate wie Lkw-Konzerte und Musikfest-Trecker, Wohnzimmerkonzerte, Open Airs oder natürlich auch Veranstaltungen ohne Publikum, die als Podcasts oder Live-Streams übertragen wurden: All diese Initiativen verdienen allergrößten Respekt.

Schleswig-Holstein Musik Festival 2019

„Selten wurde uns mehr Flexibilität und Kreativität abverlangt. Aber auch selten habe ich so glückliche und dankbare Menschen – Publikum wie Künstler – erlebt. Ich bin unglaublich dankbar und blicke der Saison 2021 optimistisch entgegen“, so Christian Kuhnt.

Drei Konzerte an einem Tag für de Maistre
Xavier de Maistre. Foto: (c) Gregor Hohenberg

Dankbarkeit war auch das Stichwort an diesem Samstag in der Hamburger Elbphilharmonie: Star-Harfenist Xavier de Maistre hatte trotz widrigster Umstände an seinem Engagement als diesjähriger Porträtkünstler festgehalten und war in verschiedensten Formaten beim SHMF zu erleben. Um die treuesten und wichtigsten Unterstützer des SHMF zu würdigen, trat er nun gleich zu drei Konzerten hintereinander mit jeweils unterschiedlichem Programm auf die Bühne. Der letzte der jeweils gut einstündigen Konzert-Slots zeigte ihn als Solo-Instrumentalisten, gemeinsam mit der Schauspielerin Martina Gedeck („Das Leben der Anderen“, „Elementarteilchen“), die verschiedene kurze Texte von vorrangig romantisch-impressionistischer Stilart vortrug.

Keine Nagelprobe für den Raumklang

Nur zwei Menschen also auf der Bühne, vor einem großen „Danke“-Schriftzug – und „nur“ 620 Menschen auf den Rängen. Höchst erstaunlich, wie diese immer noch beachtliche Personenmenge, die bereits über der normalen Kapazität des Kleinen Saals läge, sich auf den 2100 Sitzen des Großen Saals verliert. Jede zweite Reihe blieb komplett frei und zwischen jedem einzeln oder paarweise platzierten Gast waren zwei freie Sitze. Wie es hieß, seien ja die Sitze der Elbphilharmonie im Rahmen des Akustikkonzepts so konstruiert, dass es für den Klang im Raum unerheblich ist, ob 20 oder 2000 Menschen einem Konzert beiwohnen. Zur echten Nagelprobe in dieser Hinsicht taugt ein Konzert mit einem einzigen Instrument aber natürlich weniger. Und Martina Gedeck rezitierte ihre Texte zudem elektronisch verstärkt, leider auch ein paar Mal von Störgeräuschen der Lautsprecheranlage unterbrochen.

Kann man das Zuhören verlernen?

Es ist ein eigentümliches Gefühl, diesen seit seiner Eröffnung bis zur Corona-Pause zum praktisch dauerausgebuchten Sehnsuchtsort der deutschen Konzertwelt gewordenen Saal so leer zu sehen. Mit einer Mischung aus Bedrückung, Hoffnung und Erhabenheit fühlt man sich ein bisschen wie in einem Einkaufszentrum in der Ferienzeit, kurz vor Ladenschluss: irgendwie privilegiert und zugleich unentspannt. Und, es lässt sich kaum anders formulieren, auch in der (Live-)Zuschauerrolle kann man ein bisschen aus der Übung kommen. Was war das gerade? Da muss ich noch mal kurz zurückspulen … ach, nee …

Die Atmosphäre im Publikum ist durchaus von Dankbarkeit erfüllt, der Beifall warm und herzlich – aber der wiederholt gespendete Zwischenapplaus, trotz erkennbarer Bemühungen von de Maistre und Gedeck, im Programm ohne Unterbrechungen fortzusetzen, lässt das letzte Feingefühl auf Seiten der Zuschauerinnen und Zuschauer doch noch ein wenig vermissen.

Verträumt und unterkühlt

Bei Xavier de Maistre stehen unter dem Motto „Nacht“ von der sanft perlenden Arabesque von Debussy über dem sehnsuchtsvoll-folkloristischen Le Rossignol von Liszt bis zu den melancholisch-nostalgischen Recuerdos de la Alhambra von Tárrega zunächst vorrangig verträumt-impressionistische Werke.

Martina Gedeck bei der Berlinale 2013. Foto von Avda – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24646962

Unter den dazwischen mit der gleichen thematischen Klammer verbundenen Texten, die Martina Gedeck vorträgt, ragt besonders Oscar Wildes Kunstmärchen Die Nachtigall und die Rose heraus. Es passt nicht nur besonders gut zu Martina Gedeck, diesem dunkel schimmernden Eiskristall unter den deutschen Schauspielerinnen mit ihrem typischen Duktus zwischen gezügelter Leidenschaft und fragiler Unterkühltheit. Wildes zunächst hoch romantisch angelegte und die vermeintliche Kraft und Einzigartigkeit der Liebe feiernde Geschichte ist mit ihrer sarkastischen Schlusspointe auch ein bisschen sinnbildlich für die Fallhöhe, in der sich das Kulturleben in Corona-Zeiten bewegt. Zwischen wohlfeilen Sonntagsreden und echter Unterstützung für die Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen ist die Wegstrecke doch erstaunlich kurz.

Berührende Bravourstücke

Musikalisch ist in der zweiten Hälfte eine Zunahme des Spannungsgrades zu verzeichnen: Granada aus der Suite española von Albéniz im Arrangement für Harfe gelingt mit glühender Intensität, ebenso Debussys berühmtes Clair de Lune mit seiner berührenden Innigkeit. Die Umarbeitung dieser Werke für Harfe zeigt, dass sich Könner wie de Maistre nicht nur am genuin für dieses Instrument komponierten Repertoire bedienen müssen.

Vom Gedicht Les Elfes von Leconte de Lisle schließlich geht es dann zum einzigen Male an diesem Abend fließend über von der Rezitation zur Musik, nämlich zu Henriette Reniés Légende sur Les Elfes de Leconte de Lisle. In der Tat ein Bravourstück, bei dem de Maistre seiner Harfe alles abverlangt, um dem Publikum die reichen Möglichkeiten dieses Instruments zu zeigen und mit so mancher überraschenden Wendung aufzuwarten.

Innigkeit in der Distanz – ein Paradoxon

Es sind mit Sicherheit nicht nur und vielleicht noch nicht einmal vorrangig künstlerische Maßstäbe, an denen ein solcher Abend gemessen werden sollte. Xavier de Maistre und Martina Gedeck arbeiten das Thema „Nacht“ stimmig aus, das Programm ist kurzweilig und zugleich in seiner Gesamtheit anspruchsvoll.

Doch hier markiert der Abschluss eines im Rahmen der Möglichkeiten gut geretteten SHMF zugleich den Übergang in den ungewissen Saisonstart von Musiktheatern und Konzerthäusern. Und dann erhebt man sich von seinem Platz, zieht die Maske wieder über Mund und Nase und verlässt das Haus still und unbedrängt über eine Infrastruktur, die eigentlich für mehr als die dreifache Personenzahl ausgelegt ist, mit verwaisten Foyers und leeren Treppenhäusern. Das Auto in der Tiefgarage, kein weiterer menschlicher Kontakt – ein beinahe virtueller Abend.

Intimität und Ekstase, die knisternde Spannung eines vollen Saals, das kollektive Durchatmen nach dem Bewältigen kniffliger Instrumentalpassagen und das spontane Entzücken nach schwindelerregenden Koloraturen: Wie viel davon lässt sich herüberretten in die kühle Vernunft der luftigen Distanz? Wir werden es erleben. Oder mit Rilkes Worten (stellen Sie sich Martina Gedecks Stimme vor): „Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger hat uns in der Hand? O süßes Lied.“

Guido Marquardt, 2. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Spielzeit 2020/2021: Elbphilharmonie Hamburg Elbphilharmonie

Rainer Maria Rilke
Die erste Duineser Elegie (Auszüge)

Claude Debussy
Arabesque Nr. 1

Else Lasker-Schüler
Phantasie

Oscar Wilde
Die Nachtigall und die Rose

Franz Liszt
Le Rossignol S 250,1
nach einer russischen Melodie von Alexander A. Alabieff
(für Harfe bearbeitet von Henriette Renié)

Johann Wolfgang von Goethe
Willkommen und Abschied (Spätere Fassung)

Francisco Tárrega
Recuerdos de la Alhambra
(arrangiert für Harfe)

Friedrich Nietzsche
»Nacht ist es«
Auszüge u. a. aus Also sprach Zarathustra

Rainer Maria Rilke
Liebes-Lied

Isaac Albéniz
Granada
aus der Suite española op. 47
(arrangiert für Harfe)

Joseph von Eichendorff
Mondnacht

Claude Debussy
Clair de lune
aus der Suite bergamasque für Klavier
(arrangiert für Harfe)

Charles M. Leconte de Lisle
Les Elfes

Henriette Renié
Légende sur Les Elfes de Leconte de Lisle

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