Foto: Das Bayreuther Festspielhaus im „Winterschlaf“.
„Auf Kulturebene können alle Menschen Brüder werden, wenn sie es nur wollen.“
von Jolanta Łada-Zielke
In dem Buch „Meine Reise zu Beethoven“ erwähnt sein Autor Christian Thielemann Richard Wagners Begeisterung für Beethovens Musik. Die Neunte Symphonie begleitete die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Bayreuther Festspiele. Erstmals wurde sie 1872 im Markgräflichen Opernhaus anlässlich der Grundsteinlegung für das Festspielhaus aufgeführt. Richard Wagner selbst stand damals am Dirigentenpult. Es ist ein Rätsel, wie die Mauern des Barocktheaters einer solchen Schallmasse standhalten konnten…
Das Werk erklang zum zweiten Mal im Jahre 1933 zu Wagners fünfzigstem Todestag unter der Leitung von Richard Strauss. Die nachfolgenden Aufführungen fanden 1951 (bei der Wiederaufnahme der Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg), dann 1953, 1963 und 2001 statt. Im Beethoven- Jubiläumsjahr sollte ein Konzert mit der Neunten die ganzen Bayreuther Festspiele krönen; wegen Corona kam es leider nicht dazu.
Viele Dirigenten, Orchester und Chöre planten in 2020 zumindest eine Aufführung der letzten Symphonie Beethovens. Der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg sollte damit dreimal auftreten. Dank der Lektüre des Buches von Thielemann hatte ich zumindest den Anschein eines Konzerts, obwohl ich nicht mit allen Kommentaren des Dirigenten einverstanden bin. Vielleicht ist es eine Geschmackssache oder einfach der Standpunkt einer Chorsängerin.
Christian Thielemann schreibt dem letzten Satz dieser Symphonie „etwas Hysterisches“ zu. Wenn er gemeint hätte, er sei hysterisch im gleichen Sinne wie „Tristan und Isolde“, könnte ich ihm zustimmen. Ich habe dagegen mehrmals gesehen, wie viel Spaß die Orchestermusiker und Sänger bei jeder Aufführung dieser Symphonie haben. Man kann dabei aufrichtige ekstatische Freude empfinden. Ich habe dort weder Chaos noch ein Durcheinander bemerkt, weil alles im Voraus gut vorbereitet war.
Also zuerst: anständiges Einsingen, vor allem für den Chor, der von Anfang an auf der Bühne stehen muss. Die Solisten können nach dem zweiten Satz Scherzo eintreten und in der „idyllischen Ruhe“ des Adagios auf das Finale warten. Die Solosopranistin braucht keine Angst vor ihrem zweigestrichenen H zu haben, wenn sie noch kurz vor dem Adagio ein paar Übungen macht.
Am Tag des Auftritts mit der Neunten übe ich zuerst am Vormittag zu Hause, um meine Stimme richtig einzustellen. Das spätere gemeinsame Einsingen dient mir nur als Auffrischung. Dann finde ich es nicht so schlimm, dass ich auf den Choreinsatz fast eine Stunde warten muss. Ich sitze und genieße die ersten drei Sätze, mit jeder Menge Herzklopfen beim Scherzo (laut Thielemann dem am wenigsten problematischen Satz im ganzen Werk). Bevor ich den ersten Ton nehme, gähne ich noch diskret, um den Gaumen hochzustellen.
Alle schreien durcheinander? Nicht unbedingt.
Und dann kommt die goldene Regel, die mir sowohl mein Gesangslehrer als auch bekannte Chorleiter beigebracht haben: Stimme sparen, nicht zu viel Volumen am Anfang der Phrase geben, den Gaumen so hoch und den Unterkiefer so tief wie möglich halten. Dann singt man laut genug, ohne die Stimmbänder zu strapazieren. Natürlich lächeln jetzt Sänger, die das lesen, weil ich nichts Neues sage. Sie können mir aber recht geben; wenn alle es so machen, dann SINGEN sie wirklich statt zu schreien.
Und was ist mit den Konsonanten? Der Dirigent behauptet richtig, sie sind auf solchen hohen Tönen wie bei Beethoven „nicht mehr gefahrlos zu deklamieren“, besonders für Soprane und Tenöre. Zur Rettung kommen Alt und Bässe und sprechen die Konsonanten sowohl für sich selbst als auch für Kolleginnen und Kollegen aus. Chorsingen ist schließlich eine kollektive Arbeit zur Erreichung eines gemeinsamen Klangs. Die Gefahr besteht darin, dass die Sänger den Eindruck bekommen, dass das Orchester sie übertönt, und sie tatsächlich beim Forte anfangen zu schreien. Das darf nicht passieren. Je größer der Chor ist, desto leichter fällt den Sängern, das Volumen vernünftig zu dosieren. Wie Thielemann sagt, verlangt dieser Satz vor allem eine gute Koordination.
Die anspruchsvollste Stelle ist für mich das Ende der Phrase „diesen Kuss der ganzen Welt“, wenn die Soprane das zweigestrichene A im Fortissimo über achteinhalb Takte (718 bis 726) halten und dann noch über dreieinhalb Takte so hoch singen müssen. Bei meinem ersten Konzert mit der Neunten habe ich an dieser Stelle das Choratmen verwendet. Damals stand und sang neben mir meine Ex-Chefin von Klassik Radio Bettina Zacher, was ich sehr spannend fand.
Seit den späteren Auftritten nehme ich einen kleinen Atemzug vor „Welt“ und kann diese acht Takte einfach durchhalten.
Anspruchsvoll, aber singbar
Also, wenn die Konsonanten schon richtig knirschen und die Töne mit geteilter Kraft genommen werden, kann man sich mit der Interpretation der „Ode an die Freude“ befassen. Christian Thielemann findet die Botschaft des Gedichts von Friedrich Schiller utopisch. „Alle Menschen werden Brüder“? Glaubte Beethoven selbst daran oder meinte er das ironisch? Die weitere Geschichte zeigt, dass sich diese Prophezeiung bisher tatsächlich als Utopie herausstellte. Ich denke bei diesen Worten an die Musik, Kunst, Kultur und Wissenschaft. Das sind die Ebenen, auf denen sich Menschen vereinen können. Was die Politik trennt, kann die Musik verbinden. Nehmen wir zum Beispiel Polen und Russland; in politischer Hinsicht waren und sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern immer noch mehr oder weniger angespannt. Aber polnische und russische Künstler, beispielsweise Opernsänger, treten gemeinsam auf Bühnen auf und schließen Freundschaften miteinander. Die unterschätzte Kultur trägt mehr zum Weltfrieden bei als jede Politik! Auf Kulturebene können alle Menschen Brüder werden, wenn sie es nur wollen.
Der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor und die Hamburger Symphoniker treten mit Beethovens Neunter traditionell am 31. Dezember und am 1. Januar in der Laieszhalle auf, jedes Jahr unter anderer Leitung. Christian Thielemann sagt, die jungen Dirigenten verfügten über das größte Engagement. Das stimmt. Ich erinnere mich an die Konzerte zum Jahreswechsel 2015/2016, die Ben Gernon leitete. Dieser junge Mann war ganz Feuer und Flamme dafür; er sprang und tanzte fast hinter dem Pult, aber vor allem gab er viel von seiner unerschöpflichen Energie an uns weiter. Beide Konzerte mit ihm bleiben in meiner Erinnerung als die wundervollsten.
So sehe ich das Finale der Neunten Symphonie: Was die Aufführungsschwierigkeiten angeht, will ich die Sache überhaupt nicht vereinfachen. Das Werk bleibt nach wie vor für Chorsänger eine Herausforderung, egal ob von einem professionellen oder einem guten Laienkonzertchor. Es ist aber singbar und macht viel Spaß.
Während des Konzerts arbeitet mein Kopf mehr als die Stimme. Für mich ist es in erster Linie eine mentale Anstrengung. Beim Verlassen der Bühne bin ich total erschöpft, viel mehr als nach allen sechs Kantaten von Bachs „Weihnachtsoratorium“. Naja, Bach-Singen ist mir eine gute Zwerchfellmassage und ein Balsam für den Kehlkopf. Beethoven verfügt hingegen über eine gewisse Schärfe, die mich sehr anzieht. Deshalb widerspreche ich dem Dirigenten, der behauptet, dass die Tonart d-Moll grau sei. Für mich hat sie – besonders in Bezug auf die Neunte Symphonie – die Farbe dunkler Schokolade.
Mit einer guten Prise Chili.
Jolanta Łada-Zielke, 25. Januar 2021, für
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Jolanta Lada-Zielke, 49, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.