Die Dirigentin Marta Gardolińska, Foto: © Bartek Barczyk
Auf der Bühne sieht sie eher bescheiden aus; schwarz gekleidet, ohne Schmuck, mit zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Aber wenn sie anfängt zu dirigieren, zieht sie die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Bewegungen sind manchmal subtil und sparsam, ein anderes Mal energisch und breit; gleichzeitig jedoch präzise und geschickt. Ihr konzentrierter Gesichtsausdruck oder ein diskretes Lächeln bei der Leitung eines Stücks von George Gershwin zeigen ihre Professionalität und machen einen sympathischen Eindruck. So präsentiert sich hinter dem Dirigentenpult Marta Gardolińska.
Studiert hat sie an der Fryderyk Chopin Musikuniversität in Warschau und an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Meisterkurse absolvierte sie unter der Leitung angesehener Dirigenten wie Marin Alsop, Bertrand de Billy, Bernard Haitink, Peter Eötvös und György Kurtág. 2015 übernahm Marta Gardolińska die Position der Chefdirigentin des Akademischen Orchestervereins in Wien. In der Saison 2017/18 war sie außerdem künstlerische Leiterin des dortigen TU-Orchesters. In den Jahren 2018/19 und 2019/20 wurde sie als Young Conductor in der Association of Bournemouth Symphony Orchestra international bekannt. Zur gleichen Zeit gab sie ihr nordamerikanisches Debüt bei den Los Angeles Philharmonics, wo sie mit Gustavo Dudamel an der Aufnahme von Charles Ives’ 4. Symphonie mitwirkte.
Nach dem Erfolg ihrer Debütproduktion „Der Traumgörge“ von Alexander Zemlinsky an der Opéra national de Lorraine in Nancy wurde Marta Gardolińska zur Musikdirektorin der Institution gewählt. Die polnische Dirigentin wird diese Stelle ab September offiziell antreten, führt aber bereits weitere Projekte mit diesem Ensemble durch.
von Jolanta Łada-Zielke
Ihre ältere polnische Kollegin Agnieszka Duczmal wollte schon als achtjähriges Mädchen Dirigentin werden. Und wie war es bei Ihnen?
Die Idee kam mir viel später, im Alter zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren. Dirigieren schien mir damals interessant zu sein, aber nicht als Beruf. Meine große Inspiration war in dem Bereich Professorin Katarzyna Sokołowska, Dirigentin unseres Chores an der Musikschule des Zweiten Grades in Warschau. Ich hatte meinen ersten Dirigier-Unterricht bei ihr, als Wahlfach. Damals habe ich den ersten „Dirigenten-Bazillus“ geschluckt. Im Laufe meiner Weiterbildung war ich fasziniert von Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ und beschloss, mich eher auf das symphonisch-orchestrale als auf das Chor-Dirigat zu konzentrieren. Aber ich habe nicht darüber nachgedacht, welchen Beruf ich ergreifen möchte, sondern wo ich am meisten lernen kann. Ich hatte einen großen Wissensdurst in verschiedenen Bereichen. Ich habe mich für symphonisches Dirigieren entschieden, weil es das vielseitigste Fach an einer Musikuniversität ist. Mein Plan war wie folgt: Studieren, um so viel wie möglich zu lernen und erst dann herausfinden, was meine Berufung ist. Ich nahm an, dass ich irgendwann eine Idee für mein Leben entwickeln würde. Aber bis zum Ende war ich mir nicht sicher, ob ich Dirigentin werden würde.
Welche anderen Möglichkeiten haben Sie in Betracht gezogen?
Die Physiotherapie an der Sporthochschule in Warschau, für die ich mich ebenfalls beworben habe. Ich wollte an beiden Fakultäten gleichzeitig studieren. Als ich aber den Stundenplan an der Sporthochschule sah, kam ich zu dem Schluss, dass ich das nicht schaffe. Also habe ich meine Physiotherapiepläne auf später verschoben. Meine endgültige Wahl für den Dirigentenberuf traf ich in Wien und verdanke sie Wien. Ich war dort für einen Studentenaustausch im Rahmen des „Erasmus“ -Programms, zuerst nur für ein Semester, dann blieb ich auch für ein zweites. Am Ende habe ich mich entschlossen, mein Studium an der Wiener Universität zu beenden, weil diese Hochschule viel zu bieten hat. Die Stadt Wien selbst ist ein großartiger Ort zum Lernen.
Sie haben dort bestimmt hervorragende Pädagogen getroffen?
Tatsächlich kam ich wegen Professor Mark Stringer dorthin, den ich früher bei einem Meisterkurs kennengelernt hatte. Er hat mir vorgeschlagen, mich bei der Wiener Uni zu bewerben, damit wir weiter zusammenarbeiten können. Ich habe viel von ihm gelernt. Er hat mich sehr unterstützt, mein Selbstbewusstsein gestärkt und zur Entwicklung meiner Dirigentenkarriere beigetragen.
Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie zum ersten Mal vor dem Orchester standen?
Ja, auch vor kurzem habe ich darüber nachgedacht. Es war noch an der Musikschule des Zweiten Grades in Warschau, wo ich Flöte spielen lernte und in dem Schulorchester spielte. Einmal machten wir ein Sommerprojekt mit schönen und lustigen Stücken von Leroy Anderson, mit denen wir auch ein Album aufnahmen. Der Orchesterleiter Piotr Wajrak wusste, dass ich am Dirigieren interessiert war. Deshalb erlaubte er mir, das Ensemble einmal zu leiten. Wir haben zusammen einen Walzer aufgeführt. Während meiner ersten Proben hatte ich viel Unterstützung von meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Orchester, deshalb ist meine Erinnerung daran sehr schön.
Und während des Studiums? Wann dürfen Studierende zum ersten Mal ein Orchester leiten?
Während meines Studiums in Warschau stand ich nur zweimal am Dirigentenpult. An der Warschauer Uni gab es ein Orchester, das wir „Dekan-Orchester“ nannten, weil der Unterricht in einem Studentenheim namens „Dziekanka“ stattfand. Es bestand aus verschiedenen Musikern, teils aus der Philharmonie, teils aus der Oper, teils im Ruhestand, die speziell für Studenten spielten. Nach dem ersten Semester des zweiten Studienjahres durften wir dieses Orchester eine halbe Stunde lang dirigieren. Das erste Stück, das ich mit ihnen aufführte, war die 9. Symphonie von Franz Schubert und das war für mich stressiger als beim ersten Mal an der Musikschule.
Manche Orchester haben eine reiche Geschichte und Aufführungstradition. Das Bournemouth Symphony Orchestra, mit dem Sie zusammengearbeitet haben, besteht seit 1893. Haben die Musiker versucht, Sie zu zwingen, ein bestimmtes Musikstück zu dirigieren, und erklärt, dass sie es seit Jahren so spielen?
Natürlich könnten sie mir so etwas sicher sagen… Aber dieses Orchester mag ich am liebsten von allen, mit denen ich bisher gearbeitet habe. Das ist eine Gruppe fantastischer Leute, die gerne zusammen Musik auf hohem Niveau machen. Sie sind sehr aufeinander eingespielt, verfügen über eine spezifische Kultur des Klangs, der Phrasierung und der inneren Kommunikation. Wenn ich vor ihnen stehe, brauche ich nicht extra auf das Tempo zu achten, um sie im Griff zu haben. Ich schlage ihnen nur einige Lösungen vor. So macht mir das Dirigieren viel Spaß. Unser erstes gemeinsames Projekt war Dvořáks Symphonie Nr. 9, zu der ich eine sehr persönliche Beziehung habe. Während des zweiten Teils – Largo – nahm ich ein riskantes langsames Tempo. Der Konzertmeister schlug mir dann – in einem sehr leisen Flüsterton – vor, dass Geiger und Bratschisten aufgrund der Akustik dieses Raumes mehr Bogenwechsel vornehmen müssten. Er fragte mich, ob es mich nicht stören würde, wenn wir es etwas schneller aufführen würden. Aber er machte es sehr dezent, nicht öffentlich, sondern in Form eines Vorschlags. Übrigens kommuniziert das Orchester auf ähnliche Weise mit anderen Dirigenten, es sei denn, es ist mit einer Person konfrontiert, die auf Konflikte aus ist. Insgesamt herrscht im Bournemouth Symphony Orchestra eine Atmosphäre des Dialogs und wenn etwas nicht stimmt, wird dies immer auf freundliche Weise zu verstehen gegeben.
Letztes Jahr waren genau 90 Jahre seit dem Debüt der ersten Dirigentin Antonia Brico vergangen. Wie jede Frau, die einen typisch „männlichen“ Job anstrebte, musste sie viele Vorurteile und Stereotypen überwinden. Erleben Sie das heute nicht mehr?
Doch, ich habe von verschiedenen Leuten gehört, dass Frauen nicht dirigieren sollen. Ich habe dies zu Beginn meines Studiums in verschiedenen Situationen, bei Wettbewerben oder im Kontakt mit Musikern erlebt. Als ich einigen Leuten erzählte, was ich tue, spürte ich eine Überraschung oder sogar einen leichten Widerstand von ihnen. Aber ich habe das nie ernst genommen. Ich glaube nicht, dass das Problem bei mir liegt. Wenn ich gut vorbereitet bin und meine Arbeit richtig mache, aber jemand trotzdem etwas gegen mich hat, kann ich nichts dagegen tun. Ich gehe davon aus, dass sich die Qualität irgendwann selbst verteidigen wird. Und das geschieht wirklich. Wir Frauen, die wir in diesem Beruf arbeiten, haben unseren Vorgängerinnen viel zu verdanken, die das Image des Dirigenten verändert und bereichert haben. Ich muss keine Vorurteile mehr bekämpfen. Heute reicht es aus, weiter den Job zu machen und das positive Erscheinungsbild einer Frau hinter dem Dirigentenpult wird sich bei Musikliebhabern allmählich verfestigen.
Ein mir bekannter Opernsänger sagte einmal, dass er Dirigentinnen nicht möge, weil sie entweder vor oder nach ihrer Periode seien und Stimmungsschwankungen hätten.
Naja, wir haben Hormone, aber Männer haben ein sehr empfindliches Ego, das für das Ensemble viel unangenehmer sein kann. Man hört solche Sprüche, aber meiner Meinung nach sollte man nur darüber lachen. Während der letzten Produktion in Nancy hatte ich diesbezüglich ein sehr angenehmes Erlebnis. In der Besetzung befand sich ein erfahrener Sänger mit einer langen Karriere. In den ersten Wochen der Proben hatte ich das Gefühl, dass er mich misstrauisch beäugte. Eines Tages unterhielten wir uns in einer größeren Gruppe und er gab zu, dass er noch nie zuvor mit einer Dirigentin zusammengearbeitet hatte, sodass er zunächst nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Am Wochenende vor diesem Gespräch nahm dieser Herr an einem anderen Projekt teil, das von einem Mann durchgeführt wurde. Der Sänger kam aufgrund seiner Beobachtungen, Analysen und Vergleiche zu dem Schluss, dass er die Zusammenarbeit mit einer Frau als Dirigentin besser findet, weil er sich dabei mehr geschätzt fühlt sowie mehr Möglichkeiten für Dialog, Austausch und ein angenehmes Arbeitsklima sieht. Ich freue mich sehr, so etwas zu hören, denn das ist mein Ziel.
Diese Produktion an der Opéra national de Lorraine in Nancy haben Sie während der Pandemie erfolgreich durchgeführt. Sie haben sich ein schwieriges Werk ausggesucht – Alexander Zemlinskys spätromantische Oper „Der Traumgörge“.
Wir hatten ein riesiges Glück, dass die Premiere in die Entspannungszeit zwischen der ersten und der zweiten Welle fiel, weil wir Publikum einladen konnten. Wir haben insgesamt sieben Vorstellungen aufgeführt; vier in Nancy und drei in Dijon vor einem unvollständig gefüllten Zuschauerraum. In Nancy durften wir 50 Prozent der Plätze zur Verfügung stellen, in Dijon nur 30 bis 25 Prozent, da sich die Situation mittlerweile verschlechtert hatte. Aber es gab immer jemand, der im Publikum saß, uns hörte und uns „live“ sah. In der ersten Februarwoche haben wir ein Programm „Dream or Destiny“ vorbereitet. Eigentlich sollten es zwei symphonische Konzerte werden, aber da die Teilnahme des Publikums jetzt komplett verboten ist, haben wir beschlossen, eine Aufnahme fürs Radio zu produzieren.
Für den 21. Februar ist mit Ihnen ein Konzert in Katowice mit dem Polish National Radio Symphony Orchestra und der Klarinettistin Annelien Van Wauwe geplant. Wird es stattfinden?
Ja. Es sollte ursprünglich nur ein Live-Stream sein, aber zum Glück wurden 50 Prozent des Publikums zugelassen. Der Ticketverkauf hat bereits begonnen. Nur das Programm musste geändert werden, wie bei fast allen meinen Konzerten dieser Saison. Wir spielen mit einer kleineren Besetzung, damit es möglich ist, die Musiker mit den vorgeschriebenen Abständen auf der Bühne zu platzieren.
Werden Sie auch ein polnisches Werk in der Opéra national de Lorraine produzieren, um die polnische Musik dem dortigen Publikum zugänglich zu machen?
Ja, ich führe bereits Gespräche darüber. Natürlich wird dies mit symphonischen Programmen einfacher sein, da es zunächst mehr Raum für Repertoire-Experimente mit weniger bekannter Musik gibt. Zweitens gibt es kein Sprachproblem dabei. Die meisten Sänger sind an die tschechische und die russische Sprache gewöhnt, aber Polnisch ist für viele zu schwierig, obwohl die Meinungen dazu geteilt sind. Einmal sagte mir eine Sopranistin, die die Rolle von Roxana von Karol Szymanowskis „König Roger“ vorbereitete, dass sie am Anfang sehr gestresst war. Aber nachdem sie ein wenig mit dem Coach daran gearbeitet hatte, fand sie das Singen auf Polnisch problemlos. Und ich würde auch unsere Sprache verteidigen, weil wir offene, vordere und nasale Vokale haben, die angenehm auszusprechen sind. Aber das ist mein subjektives Gefühl.
Christian Thielemann schrieb in seinem neuesten Buch „Meine Reise zu Beethoven“ über die Einsamkeit des Dirigenten. Er unterstütze die Musiker, wenn sie einen schlechten Tag haben, eine verängstigte Solistin wecke in ihm einen schützenden Instinkt, er aber werde von niemandem getröstet. Haben Sie auch ein solches Gefühl?
Es ist genau so in diesem Beruf. Ich erinnere mich, als Professor Clark Rundell aus Manchester uns während meines Studiums in Wien besuchte und unterrichtete sowie mit uns über das Leben und die Karriere eines Dirigenten sprach. Auch er betonte, dass es ein sehr „einsamer“ Job sei, wie es bei jedem Anführer der Fall ist. Es gibt keine Zeit und keine Möglichkeit, irgendwelche Schwäche zu zeigen, weil man für eine große Gruppe von Menschen und große Projekte verantwortlich ist. Ich fühle es am akutesten bei Konzertreisen, weil man oft ganz alleine reist, ohne andere Dirigenten zu treffen. Man kann einen Solisten kennenlernen und einige Zeit mit ihm verbringen, während zwischen dem Orchester und dem Dirigenten eine gewisse Distanz besteht, die auch notwendig ist. Aber ein Dirigent braucht wie jeder Mensch auch die Unterstützung von Freunden und Familie, die ihm einen Ausgleich schaffen. Ich habe eine solche Unterstützung, worüber ich mich sehr freue.
Sie treten in einem eleganten aber bescheidenen Outfit auf. Ich denke, dass Bequemlichkeit und Bewegungsfreiheit beim Dirigieren am wichtigsten sind…
Wenn es um das Aussehen des Dirigenten geht, bin ich im Allgemeinen eine Minimalistin. Unsere Darstellung hat eher Audio- als Video-Charakter. Die Bewegungsfreiheit ist hier sehr wichtig, weil es mir kurios erscheinen würde, wenn ich meine Expression wegen eines zu engen Ärmels oder Kragens einschränken müsste. Das Outfit eines jeden Musikers sollte praktisch sein.
Christian Thielemann schreibt auch, dass er immer im Frack auftritt, während einige seiner Kollegen während der Konzerte einen Rollkragenpullover tragen…
Ich würde keinen Frack tragen, das wäre mir zu männlich.
Und gibt es auch den Frack für Frauen?
Aber natürlich. Es gibt sozusagen verschiedene „Variationen des Fracks“, zahlreiche interessante Möglichkeiten der Stilisierung nur für Frauen. Aber ich suche eher nach neutraleren Lösungen.
Um das Orchester nicht mit einem zu auffälligen Outfit abzulenken?
Wassili Petrenko sagte über Dirigentinnen, dass sie das Orchester überhaupt ablenken. Aber jede Geigerin in jedem Orchester oder jede Chorsängerin kann dasselbe über einen gutaussehenden Dirigenten sagen (lacht).
Haben Sie irgendwelche „Traumwerke“ und ein „Traumensemble“, mit dem Sie sie dirigieren möchten?
Ja, ich habe einige. Eines davon sind die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss. Ich würde sie gerne mit einem deutschsprachigen Orchester aufführen und als Solistin Maria Bengtsson engagieren, die ich noch aus Wien kenne, als ich im Chor im Theater an der Wien sang. Sie hat eine wunderbare Stimme und verfügt über eine fantastische Technik, die für Strauss’ Musik wie geschaffen ist. Ich träume auch davon, Gustav Mahlers 2. Symphonie zu dirigieren.
Vielen Dank für das Gespräch und ich wünsche Ihnen, dass all Ihre Träume wahr werden.
Jolanta Łada-Zielke, 16. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview Nicole Peña Comas, „Das Cello hat mich ausgewählt“ klassik-begeistert.de