Foto © Klaus Rudolph
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 6. Dezemer 2017
Grigorij Sokolov Klavier
Joseph Haydn
Sonate g-moll Hob. XVI/44 (1788/1789)
Sonate h-moll Hob. XVI/32 (1776 ?)
Sonate cis-moll Hob. XVI/36 (1780)
Ludwig van Beethoven
Sonate e-moll op. 90 (1814)
Sonate c-moll op. 111 (1821 – 1822)
Zugaben: Franz Schubert Moment musical C-Dur D 780/1 (1823-1828)
Frédéric Chopin
Nocturne H-Dur op. 32/1 (1836-1837)
Nocturne As-Dur op. 32/2 (1836-1837)
Jean-Philippe Rameau
L’indiscrète B-Dur (Cinq pièeces pour clavecins seul, extraites de Pièces de clavecin en concerts Nr. 5) (1741)
Frédéric Chopin
Prélude Des-Dur op. 28/15 «Regentropfen-Prélude» (1836-1839)
Prélude c-moll op. 28/20 (1836-1839)
von Bianca Schumann
Es ist 19.30 Uhr. Es ist angerichtet. Der prall gefüllte Große Saal im Wiener Konzerthaus wartet voller Spannung auf den großen russischen Meister der Klaviermusik. Doch, Gemach. Erst mit zehnminütigem Verzug – wie ungewöhnlich für das Konzerthaus – wird das Licht im Saal gedimmt, nein, es geht förmlich aus – auch ungewöhnlich für das Konzerthaus. Mit tosendem Applaus empfängt das Publikum schließlich Grigorij Sokolov, der in gebeugter Haltung die Bühne betritt. Er sitzt kaum im schwachen Scheinwerferlicht, da erklingt auch schon das erste Stück.
Die Sonate Hob. XVI/44 steht in Moll geschrieben, wie sämtliche Sonaten, die Sokolov für diesen Abend ausgewählt hatte. Auch das ist ungewöhnlich, denn zu Zeiten Joseph Haydns war es Usus, Sonaten in Dur zu verfassen.
Es ist faszinierend, mit welch einer Leichtigkeit der 67 Jahre alte Pianist die überaus flinke Musik, in der es an allen Ecken trillert und prallert, ganz jung und frisch erklingen lässt.
Der zweite Satz ist von Seufzermotiven und Doppelschlägen (erneut eine Verzierungsfigur) geprägt. Die Musik ist nahezu nackt. Die rechte Hand phantasiert großteils solistisch, die linke Hand wirft nur hier und da ein paar Töne dazu. Doch das macht die Interpretation keineswegs einfacher, wie man vielleicht annehmen könnte: Hinter nichts kann sich der Pianist verstecken. Alles ist durchhörbar. Keine vollgriffigen Akkorde, bei denen der ein oder andere Klang auch mal nicht zu hundert Prozent sitzen muss, weil sie eh Effekt machen. Natürlich ist Sokolov dieser Aufgabe bestens gewachsen, es widerfährt ihm auch nicht der aller kleinste Patzer.
Das erste Stück ist absolviert. Applaus? Fehlanzeige. Sokolov holt nur einmal kurz Luft und beginnt sofort mit der nächsten Sonate, so als handelte es sich um einen weiteren Satz des ersten Werks. Er wird diese Strategie den Abend über beibehalten.
Das Konzertpublikum, das gewöhnt ist, sich zwischen den Werken, manchmal gar zwischen den einzelnen Werksätzen, räuspern zu können, sich einmal kurz zu strecken, wurde im Verlaufe der ersten Konzerthälfte leider zunehmend unruhiger. Die feine Musik Haydns benötigt Stille, wurde aber leider durch häufige Störgeräusche aus dem Publikum des Öfteren empfindlich beeinträchtigt.
In der zweiten und dritten Klaviersonate, die uns Sokolov von Haydn präsentierte, waren die stilgeschichtlichen Bezüge zu Carl Philipp Emanuel Bach teils deutlich hörbar: Der galante Stil, die kompositorische Arbeit – höchst spannend diese epochenübergreifenden Beziehungen von einem Meister wie Sokolov aufgezeichnet zu bekommen.
Die Musik Haydns bewegt sich in ihrer gegenwärtigen Aufführungspraxis hauptsächlich in Lautstärkenbereichen zwischen pianissimo und mezzoforte und kann für unsere Ohren bei einer semiprofessionellen Ausführung möglicherweise schnell eintönig wirken. Dem vielfach preisgekrönten Pianisten von Weltrang gelang es indes selbst noch die feinsten charakteristischen Nuancierungen in seiner Artikulation und Agogik unterzubringen, ohne ins krachende Forte ausbrechen zu müssen. Eintönigkeit? Langeweile? Nicht im Geringsten.
Nachdem der gebürtige Leningrader den Haydn-Block abgeschlossen hatte, gestattete er dem Publikum seiner Begeisterung Luft zu machen. Bereits hier, nicht enden wollender Applaus. Erst nachdem Sokolov fünf Male die Bühne betreten hatte, um den Applaus mit einer immer exakt identischen kurzen Verbeugungsgeste abzunehmen, gönnte sich die Hörerschaft eine Pause.
Nach der Pause das gleiche Prozedere wie zu Beginn des Konzertes. Sokolov betritt mit gebeugter Haltung die Bühne, schreitet zum Instrument und beginnt sofort mit seinem Spiel. Dieses Mal erklingen jedoch keine lieblichen, perlenden Läufe oder brillante Triller, sondern die mächtigen Akkorde des Beginns der e-moll-Sonate von Ludwig van Beethoven, der einzigen e-moll-Klaviersonate, die Beethoven je schrieb. Es ist die erste Klavierkomposition, der er anstelle einer italienischen eine deutsche Vortragsanweisung voranstellte: „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“.
Lebhaften Klanges waren die eröffnenden Akkorde zweifelsohne, doch Sokolov realisierte den Satzbeginn überraschend langsam. Der Anweisung „durchaus mit Empfindung und Ausdruck“ schien er ebenfalls sogleich gerecht werden zu wollen, indem er bereits am Ende der ersten, nur zwei Takte fassenden thematischen Phrase, langsamer wurde. Das ist nun wirklich erfrischend untypisch für diese Sonate. Denn häufig wird dieses Opus zur Demonstration roher Kräfte und wahnsinniger Schnelligkeit benutzt, um vermeintliche Virtuosität zu beweisen.
Das hat Sokolov selbstredend nicht nötig. Er gibt einer jeden Phrase Raum zum Atmen.
Den zweiten Satz, „Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen“, schloss Sokolov erneut ohne Pause an. Diese wunderschöne Melodie, die Beethoven in den Satz geflochten hat und refrainartig immer wieder auftauchen lässt, bedarf eines Pianisten, der ein Verständnis für das Maßvolle hat. Wer diese unbekümmerte Melodie mit zu viel Expressivität segnet, schadet ihr. Wer sie zu gleichförmig vorträgt, schadet ihr noch mehr.
Natürlich findet Sokolov das beste Mischungsverhältnis und reichert das Thema bei jedem Male seines Erscheinens mit feinsten interpretatorischen Abänderungen an.
Das letzte Werk, das Sokolov für seinen Klavierabend im Wiener Konzertaus aufs Programm gesetzt hatte, war auch das letzte Werk Beethovens, das er in der Gattung der Klaviersonate komponierte. Die große, mächtige c-moll-Sonate op. 111.
Gewaltig schlagen die anfänglichen Oktaven und dissonierenden Akkordschläge im Forte ein. Die Musik braucht eine ganze Weile, um zu sich selbst zu finden. Von Melodien, Themen, auch nur einem stabilen Puls ist lange nichts zu hören. Dann endlich kommt es hereinmarschiert, das Hauptthema mit seiner markanten Staccato-Artikulation. Jetzt kann es so richtig losgehen, oder? Die Musik verliert immer wieder an Fahrt. Sie muss förmlich durch immer wieder neue Anläufe künstlich am Leben gehalten werden. Nach einem erneuten, gewaltsamen Neustart schraubt sich das Thema schließlich bis in den Diskant hoch, um dann wieder in die tiefsten Tiefen zurückzufallen.
Um dieses Monstrum an Sonatensatz wiedergeben zu können, bedarf es viel mehr als bloß schnelle Finger. Es braucht einen gestandenen Künstler. Es braucht Grigorij Sokolov.
Der zweite Satz dann ganz anders. Versöhnliche, friedvolle Klänge. Im schlichten akkordischen Satz zieht die Arietta im langsamen Tempo ein. Die Hände des Pianisten sind auf der Klaviatur weit voneinander entfernt, die Mittellage bleibt unbesetzt. Eine unüberhörbare klangliche Lücke klafft noch in diesem Beginn.
Die sich anschließenden fünf Variationen beschleunigen anfänglich das überaus ruhig gehaltene Tempo. Es macht den Anschein, als würde eine still empfundene Seligkeit langsam in den lebhaften Ausdruck menschlicher Lebensfreude überführt werden.
Insbesondere die Variationen drei und auch vier mussten im Laufe der Zeit viele Interpretationen über sich ergehen lassen, welche die punktierten Rhythmen oft „jazzy“ aufgefasst haben. Was für ein Unding Beethoven salopp herrunterzurattern, was für ein Unverständnis macht sich in solchen Interpretationen breit.
Sokolov macht es richtig. Nie lässt er außer Acht, in welch erhabenes Werk diese Variationen eingebunden, in welchem Rahmen sie situiert sind. Nachdem er das fragile Satzthema in seinen sicheren Hafen geführt hat, brandete ein wahrer Sturm der Begeisterung auf. Der Saal tobte! Dieser Abend war auch einfach zu fantastisch, um nicht völlig euphorisiert endlosen Beifall spenden zu wollen.
Sokolov empfing die Applaussalven erneut nüchtern, ließ sich im Anschluss unzählige Male rufen und beschenkte sein dankbares Publikum mit sechs weiteren Zugaben.
Ein Abend, den keiner der Dagewesenen so schnell vergessen wird.
Bianca Schumann, 7. Dezember 2017, für
klassik-begeistert.at