„Mögen die Kritiker über uns den größten Blödsinn schreiben. Mögen sie uns verreißen, mögen sie tun, was sie wollen – Hauptsache sie sagen irgendetwas!“ Denn nichts sei schlimmer als das Schweigen der Kritik. Öfters schon sind mir diese Worte, mit denen der berühmte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki den Schriftsteller Siegfried Lenz zitierte, durch den Kopf geschossen.
von Jürgen Pathy
Vor allem letzten März, wo Simon Stones Inszenierung von „La Traviata“ an der Wiener Staatsoper Premiere feierte. Bis auf Igor Golovatenko, bei dem sich die Kritikerschar überwiegend einig war, dass der im Sommer als Posa in „Don Carlos“ deutlich besser gefiel, beurteilte die Aufführung so gut wie jeder anders.
Aufgeschnappt habe ich dieses Zitat aus einer Radiosendung, die im Januar 1990 ausgestrahlt wurde. Zum Glück wurde diese Sternstunde des Kulturradios auf Band festgehalten und ist auf YouTube nachzuhören. In einem pointierten Schlagabtausch haben damals Marcel Reich-Ranicki, den man den meisten wohl nicht mehr vorstellen muss, und der Opernregisseur August Everding einen köstlichen Disput gefochten. Thema der Sendung: Sinn oder Unwert der Kritik. Everding, obwohl er meinte, so einfach sei das nicht, gegen die Kritik. Reich-Ranicki, wie könnte es anderes sein, für die Kritik. Entstanden ist ein höchst anspruchsvolles Wortgefecht, das trotz all der Satire und des Elans, sachlich auf höchstem Niveau geführt wurde.
Es geht über den Sachverhalt hinaus
Ein Ziel dieser Sendung war es, herauszufinden, woran man eine gute Kritik erkennt. Ein Sachverhalt, der gar nicht so einfach zu beantworten ist. Denn nur daran, ob der Kritiker erkennt, ob die Königin der Nacht das hohe c getroffen hat oder nicht, könne man das nicht festmachen, so Reich-Ranicki. Kritik sei etwas, was man nicht nur vom sachlich Richtigen beurteilen könne. Obwohl Reich-Ranicki der Meinung war, es sei zwar Voraussetzung, dass der Kritiker den Gegenstand (Oper, Buch) kennen müsse, eine gute Kritik habe komplexere Ansprüche zu erfüllen.
Es gäbe Kritiken, die sachlich zu 100 Prozent korrekt seien und dennoch in Vergessenheit gerieten. Andere wiederum, die auf der sachlichen Ebene vielleicht nicht ganz richtig wären, würden noch immer gelesen werden. Der Grund: Es gäbe Kritiken, die in der Lage wären, die Atmosphäre des Abends hervorragend zu vermitteln. Etwas, das nicht zu unterschätzen sei.
Ein Urteil fällen
Noch etwas sei wichtig: Dass der Kritiker ein Urteil fällt! Es gäbe Kritiken, so Reich-Ranicki, bei denen wisse er nicht, ob die Vorstellung nun gut gewesen sei oder nicht. Diese Kritiker hätten ihre Profession verfehlt. Wer keinen Mut hat, der solle lieber Buchhalter und Steuerberater werden, sagte Reich-Ranicki. Der Mut zum Irrtum gehöre dazu. Denn nur ein schlechter Kritiker irre nie, der sage nämlich nichts.
Am schlimmsten seien allerdings die Gefälligkeitskritiken. Berichte also, bei denen der Kritiker mit Samthandschuhen das Terrain durchforstet. Diese kämen allerdings nur von Romanciers, davon war Reich-Ranicki überzeugt. Die könnten es sich leisten, dass sie Gefälligkeitskritiken schreiben. Ein Kritiker, der davon lebt, der könne es sich nicht erlauben, seinen Ruf aufgrund solcher Gefälligkeiten zu riskieren.
Die Form der Kritik
„Oft überwiegt die Eitelkeit des Schreibers so sehr gegenüber dem Inhalt der Kritik, die gefällige Form, die Form aufzufallen. Genauso eitel wie wir, sind oftmals die Kritiker, dabei sollten sie uns doch zurechtstauchen.“ Nachdem August Everding diesen Satz einwirft, stimmt Reich-Ranicki zu. Obwohl es schwer sei, eine gute Kritik zu formulieren. Immerhin müsse man Ahnung haben von Musik, Theater und Geschichte.
Und noch etwas müsse man können, so Reich-Ranicki – etwas, das nur die wenigsten Kritiker beherrschen: Man muss schreiben können! Dabei könne die Kritik ruhig journalistisch sein, mit wissenschaftlichen Elementen, müsse keinesfalls literarisch sein. Professoren seien deshalb meist unfähig Kritiken zu schreiben. Denn diese seien es gewohnt, dass ihnen die Studierenden sowieso zuhören müssen.
Jeder, der schon mal ein Buch von besagten Autoren gelesen hat, weiß, wovon Reich-Ranicki spricht. Ich habe einige Bücher, die sachlich vermutlich hochinteressant wären. Allerdings wurden diese so langweilig geschrieben, dass ich mich der Tortur nicht aussetzen möchte, diese zu durchforsten.
Zeitnah, darin liegt die Kunst
So richtig all die Punkte seien mögen, die Reich-Ranicki und Everding in den Raum werfen, – selbst diejenigen, die ich noch nicht erwähnt habe. Zum Beispiel, dass die meisten Kritiker auch unfähig wären, Überschriften zu schreiben – diese seien in 99 Prozent der Fälle nämlich viel zu lang. Oder dass bedeutende Künstler nicht befähigt wären, Kritiken zu schreiben. Diese hätten nämlich eine eigene Konzeption der Kunst, nach der sie alles andere beurteilen würden.
Neben all diesen Punkten, denen ich zu 100 Prozent zustimme, haben die beiden allerdings einen Punkt vergessen. Zumindest haben sie ihn nicht explizit erwähnt. Vielleicht, weil sie es als selbstverständlich betrachtet haben. Nämlich: Unter Berücksichtigung aller Komponenten, die Kritik auch noch zeitnah zu veröffentlichen. Damit der einzige Sinn, den eine Kritik laut Marcel Reich-Ranicki letztendlich erfüllt, erhalten bleibt: Den Diskurs, die Debatte also, über klassische Musik am Leben zu erhalten. Das ist meines Erachtens die größte Kunst.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 12. August 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Der Form halber eine kurze Einführung der beiden Streithähne: Bis zu seinem Tod im August 2013 war Marcel Reich-Ranicki als scharfzüngiger Literatur-Kritiker bekannt gewesen. Nicht nur den Lesern der FAZ, bei der er bis 1988 die Literaturredaktion leitete, sondern auch weit über die Grenzen der Hochkultur hinaus. Aufgrund der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ erreichte Reich-Ranicki einen hohen Bekanntheitsgrad.
August Everding hingegen, der 1999 aufgrund eines Krebsleidens starb, erlangte Weltruhm als Regisseur, Manager und Intendant. Geprägt wurde er von der Zusammenarbeit mit Hans Schweikart und Fritz Kortner. Neben seinen Inszenierungen an der Wiener Staatsoper, den Bayreuther Festspielen und der Metropolitan Opera in New York, wird Everding auch ewig in Erinnerung bleiben wegen seiner Fernsehsendung „Da Capo“, in der er Gespräche führte mit Martha Mödl, Peter Schreier, Elisabeth Schwarzkopf und anderen.
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Beitragsbild von Marcel Reich-Ranicki: Smalltown Boy, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Ein extrem guter Beitrag, der perfekt wiederspiegelt, was ich unter guten Kritiken verstehe und gleichzeitig auch die Baustellen offenbart, an denen wir alle wohl noch zu arbeiten haben. Es fällt schwer, dem noch irgendetwas hinzufügen zu wollen, außer dem Eindruck, dass in meiner Wahrnehmung die so genannten „Gefälligkeitskritiken“ heutzutage fast überall zu finden sind und die Fähigkeit, sich ein Urteil zu bilden und es auch darzulegen, verloren gegangen zu sein scheint.
Daniel Janz
Danke. Stimme zu, dass es auch die Baustellen offenbart, an denen es noch zu arbeiten gilt.
Jürgen Pathy