Foto: © Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Nachdem „Rigoletto“ im vergangenen Jahr pausieren musste, herrscht auf der Bregenzer Seebühne in diesem Jahr fast schon wieder Normalbetrieb. Auf den Tribünen sieht man kaum noch jemanden mit Maske, nahezu alle Plätze, mehr als 6000, sind zur ersten Vorstellung der Wiederaufnahme besetzt. Fast hatte man schon vergessen, wie es sich anfühlt, wenn man einen großen Kopf vor sich hat und nach einer Lücke sucht, an ihm vorbeizuschauen. Das sogenannte Schachbrettmuster ist – zumindest in Bregenz – vom Tisch, und das ist gut so! Der von der Politik auferlegten 3-G-Regel, die derzeit wohl bei allen Opernfestivals gilt, muss sich derzeit ohnehin jeder Zuschauer beugen.
von Kirsten Liese
Zudem fügt es sich bestens, dass im Jubiläumsjahr des 75-jährigen Bestehens der Festspiele eine der optisch eindrucksvollsten Produktionen des vergangenen Jahrzehnts zu sehen ist: Philipp Stölzl und Heike Vollmer haben mit dem 35 Tonnen schweren, über 13 Meter hohen Clownskopf eine Installation geschaffen, die das inflationär gebrauchte Wort genial wirklich verdient. Mit der denkbar größten Schaurigkeit illustrieren sie das Geschehen um den Hofnarren, der seine über alles geliebte Tochter im Zuge eines missglückten Auftragsmords verliert. Insbesondere das lebendige Mienenspiel des Holzkopfs zwischen Durchtriebenheit, Furchterregtheit, Schadenfreude und Entsetzen und der Mund, der sich bisweilen weit öffnet wie ein Höllenschlund, stellen das Gespenstische des unheilvollen Dramas nach Victor Hugos „Le roi s’amuse“ aus.
Und auch den übergroßen Händen kommt symbolisch große Bedeutung zu: die Linke mit ihren oft gewölbten Fingern als ein Raum der Gefangenschaft, die Rechte mit dem Ballon als ein Ort trügerischer Freiheit, an dem Gilda frisch verliebt 15 Meter gen Himmel abhebt.
Seitens der Besetzung kam es zu zahlreichen Neuerungen: Anstelle von Enrique Mazzola liegt die musikalische Einstudierung mit den Wiener Symphonikern diesmal bei Julia Jones, die vor allem damit aufhorchen lässt, wie sie analog zur Szene das Dramatische in der Musik rasant zuspitzt.
Die Partien wurden traditionell der vielen Aufführungen wegen mehrfach besetzt. In der Titelrolle berührte zur ersten Vorstellung erneut der Bulgare Vladimir Stoyanov, schon 2019 eine solide Wahl, mit Stimmgewalt und gebotener Leidensfähigkeit im Ausdruck.
Verdient großer Beifall wurde der neuen Gilda von Ekaterina Sadovnikova zuteil, die ihre koloraturreichen, virtuosen Arien sicher und mit schlanker Stimmführung noch beim Aufstieg in schwindelerregende Höhen meistert.
Einzig der Herzog in Gestalt des knödelnden Chinesen Long Long ist unter den Hauptpartien ein Schwachpunkt.
Auch in der nachgeholten Premiere von Arrigo Boitos kaum bekannter Oper „Nerone“, die im vergangenen Jahr ausfallen musste, geht es sehr grausam und blutig zu.
Die Handlung um den römischen Kaiser Nero mag ein wenig unausgegoren wirken, was sich auch daran zeigt, dass – wiewohl Boito, bekannt vor allem als Librettist Giuseppe Verdis, von 1862 bis zu seinem Tod 1918 fast sechs Jahrzehnte mit Unterbrechungen an diesem Werk arbeitete – von den ursprünglich geplanten fünf Akten nur vier fertigstellte. Dennoch gehen mehrere Kritiker meines Erachtens mit dem Musikdrama selbst und der szenischen Umsetzung zu hart ins Gericht.
Wie in Boitos einziger halbwegs erfolgreichen Oper „Mefistofele“ offenbart die Partitur eine ungemein packende, hochdramatische Musik mit unüberhörbaren stilistischen Anleihen bei Verdi und Wagner und doch einer persönlichen eigenen Handschrift. Sie wirkt mit wenigen ariosen Momenten deutlich spröder als die meisten musikdramatischen Werke Verdis, tendiert eher in Richtung „Falstaff“, nur ohne einen vergleichbar hohen Anteil an komödiantischen Szenen. Ein sehr berührendes, innigliches Duett zwischen dem verfolgten Christen Fanuèl und der Nonne Rubria im vierten Akt markiert aus meiner Sicht den musikalischen Höhepunkt.
Boito greift verschiedene Episoden aus dem Leben des Monarchen Nero auf: zu Beginn den Mord an seiner Mutter Agrippina, die Georg Friedrich Händel schon zur Heldin eines seiner Musikdramen machte, im weiteren Verlauf dann die Christenverfolgung, bekannt vor allem aus dem Sandalenfilm „Quo vadis“.
Regisseur Olivier Tambosi, der 2016 schon einmal Franco Faccios Opernrarität „Amleto“ auf ein Libretto von Boito in Bregenz erfolgreich inszenierte, hat sich diesmal richtig was getraut.
Zwar wirkt Frank Philipp Schlössmanns Drehbühne in den ersten beiden Akten seitens Ausstattung mit einigen Lichtsäulen und schwarzen Ledersesseln auf halbleerer Bühne karg und wenig originell, aber nach der Pause wird die Szene deutlich farbreicher und lebendiger. Denn nun kommt es zu einem anachronistischen Crossover von Antike und Gegenwart mit einem Apostel Fanuèl, der wie ein gemarterter Jesus mit Dornenkrone (Kostüme: Gesine Völlm) durch die Szene schreitet und nach dem großen Christen-Gemetzel in den Trümmern einer verwüsteten Kirche die sterbende Gläubige Rubria findet.
Assoziationen an Passionsspiele oder Sandalenfilme mögen sich in einem solchen Setting nicht ganz ausblenden lassen, aber was bliebe schon von dem Drama übrig, würde man es seines altrömischen und testamentarischen Kontextes gänzlich entkernen.
Im Hinblick auf den ausgeprägten Dualismus zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse, wirkt schließlich auch der Touch ins Surrealistische nicht so abwegig, wie es auf den ersten Anblick scheinen mag: Die dunklen Mächte tragen schwarze Flügel.
Überhaupt ist der Horror sehr präsent in diesem Stück, bemerkt Dirigent Dirk Kaftan im Programmheft, zeichnen doch Triumphmärsche und Gewaltexzesse eine Musik, „die auf den oberflächlichen Blick faschistoid“ daherkommt, auf den zweiten aber „genau diese Barbarei“ ausdrückt.
Und vielleicht braucht es das ja, um Menschen von heute dabei zu stören, zunehmend abzustumpfen und wegzuschauen, wo andere in Not geraten.
Auch im Graben geht es bisweilen martialisch zu, aber da, wo sich die Dynamik in Pianobereichen bewegt, hätten die Nuancen noch etwas subtiler und vielfarbiger ausfallen dürfen.
Die Partien sind solide bis trefflich besetzt, allen voran Rafael Rojas als Nerone, Lucio Gallo als diabolischer Verschwörer Simon Mago und Brett Polegato als Prediger Fanuèl führen ihre großen Stimmen, ohne sich zu schonen, schlank durch alle Register. Unter den Damen nimmt Alessandra Volpe als Rubria mit lyrischen Gaben und schöner Linienführung für sich ein, wogegen Svetlana Aksenova in der strapazierenden Rolle der impulsiven, von Neros Charme hingerissenen Asteria in den Spitzen manche Schärfen hören lässt.
Um alle Details seitens Musik und Optik zu erfassen, müsste man die Oper wohl mindestens noch ein weiteres Mal erleben. Schade, dass es in Bregenz traditionell insgesamt nur drei Vorstellungen gibt.
Kirsten Liese, 25. Juli 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at