Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Es gibt Werke, die überzeugen durch Schlichtheit, einfachen Tonsatz, und eingängige Melodien. Und dann gibt es Werke, die am Gigantischen kratzen, die in Orchestergröße, Aufbau, Gestalt und Ausdruck das Maximale herausholen wollen. Bei manchen, wie der einen oder anderen Mahler-Sinfonie, gelingt das auch in atemberaubender Weise. Ebenfalls Wagner, Strauss und Schostakowitsch seien hier lobend erwähnt! Dann gibt es aber auch Werke, die in ihrer puren Bombastik erschlagen, ins Chaos abdriften oder sich in Effekten verlieren, anstatt ihre Ressourcen gekonnt auszuspielen. Eine Tendenz, die nicht erst seit der Neuen Musik besteht: Ein früheres Beispiel dafür ist das Requiem von Hector Berlioz.
Dass eine geistliche Komposition in dieser Reihe landen musste, kommt nicht von ungefähr. Die Gattung des Requiems ist jenseits kultureller Pflege eine schwer zugängliche, in der katholischen Totenmesse verhaftete Musik. Die enthaltenen religiösen Motive sowie der lateinische Messetext stellen heute ein Vermittlungsproblem dar: Wer außer aus wohlhabenden Häusern stammende Akademiker versteht noch, was dort gesungen wird? Daraus ergibt sich die Frage: Was will diese Trauermusik bewirken? Sind Trost und Heilung von Schmerz und Verlust das Ziel – so wie es der Text nahelegt – muss sie für das Publikum nachvollziehbar sein.
Darüber hinaus müssen Dramatik und Feinfühligkeit subtil gegeneinander abgewägt sein. Hier lässt sich auch musiktherapeutisch argumentieren: Zur Verarbeitung erschütternder Erlebnisse muss zunächst eine Regulation – also Ruhe und Sicherheit – erfolgen. Erst dann können Kompensation und Konfrontation gelingen, worauf die Verarbeitung folgt. Eine – obwohl aus den 1950er Jahren stammende – Beobachtung, die sich in Beispielen, wie Brahms Deutschem Requiem wiederfindet. Auch Samuel Barbers letzte Woche behandeltem Adagio gelingt so eine atmosphärische Mischung.
Beiden Werken gemein sind inniges Gespür für die Wirksamkeit einzelner Instrumente sowie den gelungenen Aufbau von Spannung. Brahms braucht eine romantische Orchesterbesetzung, Barber sogar nur ein paar Streicher. Zusammen kommen sie wohl auf knapp über 200 Musiker. Damit offenbaren sie nicht nur eine besondere Sensibilität, sondern stehen auch im krassen Gegensatz zum in Musik gegossenen Bombast von Berlioz.
Denn mal Hand aufs Herz – welcher Wahnsinnige braucht 8 Fagotte, 12 Hörner, 16 Pauken, 10 Paar Becken, 4 Tamtams und 108 Streicher plus vier weitere Blechblasorchester jeweils aus Trompeten, Posaunen, Kornetten und Tuben? Dazu mindestens 210 Stimmen im Chor? Und das alles nur als relative Besetzung, die idealerweise noch zu verdoppelt oder verdreifachen wäre? Es ist ein Wunder, dass Berlioz bei dieser Materialschlacht nicht noch 80 hohe Holzbläser gefordert hat, sondern mit 4 Flöten, 2 Oboen, 2 Englischhörnern und 4 Klarinetten regelrecht traditionell blieb.
Was sich liest wie der Albtraum eines jeden Orchestermanagements, mag man kaum anders, als „laut“, „krachend“ und „brachial“ beschreiben. Und das Tragische ist, dass er diesen Klangapparat selten ausnutzt, um über bloße Effekthascherei hinauszugehen. Dass sich in der Konsequenz heutzutage kaum ein ernstzunehmendes modernes Orchester an die ursprünglichen Vorgaben hält, sei geschenkt. Alleine die geforderte Anzahl an Tenören zusammenzukriegen, ist eine schon fast unlösbare Aufgabe.
Hinter diesen Auswüchsen dürfte die Idee stehen, die Akustik großer Kirchensäle und Hallen auszunutzen. Immerhin setzt Berlioz die Blechblas-Fernorchester aus 4 Himmelsrichtungen ein. Das erzeugt einen atemberaubenden Eindruck – Zuhörende werden von allen Seiten regelrecht zugedröhnt. Donnern im „Tuba mirum“ dazu auch noch alle Pauken gleichzeitig los, ist das ein nervenzerreißendes Erlebnis. Bei der Uraufführung sollen dazu sogar Menschen in Ohnmacht gefallen sein.
Demgegenüber stehen aber kompositorische Schwächen, die bereits beim Gesang beginnen. Berlioz hat zwar raffinierte Läufe und einfühlsame Stellen komponiert. Diese wechseln sich aber oft mit eintönigen, wiederholenden, auf Akkorden verharrenden oder sogar monomelodischen Passagen ab. So bleibt mir das „Kyrie eleison“ am Ende des ersten Satzes zu ausdrucksschwach und das „Hosanna in excelsis“ im „Sanctus“ zu platt. Das „Dies irae“ und „Quid sum miser“ wirken durch die spärliche Orchesterbegleitung verloren, im „Quaerens me“, dem bewegungsarmen „Hostias“ und zu Beginn des „Agnus Dei“ hätte Berlioz alle Instrumente sogar ganz nach Hause schicken können und im „Offertorium“ erscheint der Gesang bis kurz vor Schluss karg.
Solche Stilmittel lassen sich als Einsamkeit, Unbehagen, Verlorensein oder Trauer deuten. Im Übermaß kann das aber auch für Einfallslosigkeit sprechen und langweilen. Dass Berlioz es besser kann, beweist er ja auch im „Rex tremendae“ und „Lacrymosa“. Auch das Tenor-Solo im „Sanctus“ lädt zum Träumen ein und stellt damit eine willkommene Abwechslung dar.
Denn was Berlioz sonst dem Orchester zu spielen gibt, grenzt an Verschwendung. Dass er die Instrumente zumeist auf Akkorde reduziert, dürfte im Fokus auf den Gesang begründet liegen. Dadurch sind aber harmonische Wendungen oft schwer auszumachen, wenn der Chor sie nicht trägt – musikalische Überraschungen bleiben also aus. Die Holzbläser gehen meist sogar komplett in diesem Akkord-Klanggemisch unter. Wozu braucht es beispielsweise die Flöten, wenn sie durchgängig nur die Melodie des Soprans nachziehen und keine Akzente setzen dürfen? Ein gezielter Einsatz unterschiedlicher Klangfarben hätte so viel mehr Reichtum erzeugt als der über weite Stellen unscheinbare Orchestersatz von Berlioz.
Auch beim „Tuba mirum“ – dem Tag des Schreckensgerichts – wäre mehr drin gewesen. Der Teil beeindruckt zwar durch die Fernbläser und das Paukengedonner erzeugt ein körperlich spürbares Erdbeben. Doch bereits die hinleitenden Streicherwirbel irritieren mit ihrem unvermittelten Einsatz. Ein Blick in die Partitur ernüchtert zusätzlich: Was klanglich überfrachtet und optisch beeindruckt, entpuppt sich kompositorisch als Verharren auf einem Sept-Akkord über Es inklusive Variation mit None. Auch die Pauken bleiben im Tonraum um Es-Dur, B-Septakkord und C-Dur gefangen. Daraus macht Berlioz fast 10 Minuten Musik. Aber diese Musik ist nicht schrecklich, sondern nur exzessiv! Man stelle sich vor, er hätte nicht sein Orchesterbrimborium – der Teil würde dramaturgisch auseinanderfallen.
Dieses Requiem ist in Summe eines der Werke, die mir Probleme bereiten. Denn was viele Konzertbesucher wohl wegen der Bombastik und einige vielleicht auch wegen der religiösen Botschaft schätzen, stellt sich in meinen Augen als vertane Chance dar. Die Idee der Fernorchester ist genial, die Umsetzung ausbaufähig. Das überbordend besetzte Orchester ist unnötig – ähnliche Klangeffekte erzeugen spätere Komponisten auch mit gefühlt nur einem Viertel der Musiker. Und die Art, mit der Berlioz den Text in den Vordergrund gesetzt hat, ließ seine Instrumentation auf der Strecke bleiben.
Was daher bleibt, ist der Eindruck der Effekthascherei auf Kosten des Ausdrucks. Berlioz hätte hier ein über Jahrhunderte wirksames, einzigartiges Werk schaffen können. Stattdessen stellt sein Erbe heute ein selten aufgeführtes, von disziplinierteren Komponisten übertroffenes Kuriosum dar. Das lässt nur einen Schluss zu: Krach und Bombast kann jeder, aber echter Gehalt entsteht nicht durch Text allein!
Daniel Janz, 17. September 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 28: Samuel Barber – Adagio for Strings (1938)
Lieber Herr Janz,
im Gegensatz zu Ihrer Besprechung der 1. Sinfonie von Brahms, muss ich Ihnen bei Ihrer Analyse des Berlioz Requiems absolut zustimmen. Ich hatte das (zweifelhafte?) Vergnügen dieses Werk bei meinem hoch geschätzten Kantor Dietrich von Amsberg (+2021) in St. Johannis in Lüneburg mitzusingen. Es war eine präzise vorbereitete und mit großer Leidenschaft musizierte Aufführung, die bei den ZuhörerInnen großen Eindruck machte. Das war wohl auch Berlioz ʼ Absicht. Aber als Chorsänger dieses Stück nahezu Ton für Ton zu erleben, war ein quälendes Erlebnis, wegen der unglaublich einfallslosen Linienführung der Singstimmen und der ebenso einfallslosen harmonischen (Nicht-)Entwicklungen. Da helfen auch kurze interessante Einfälle nicht, das Stück zu retten. Es wird völlig überschätzt.
Prof. Karl Rathgeber
Lieber Herr Prof. Rathgeber,
es freut mich sehr, dass mein Beitrag auch Ihnen so sehr aus der Seele spricht. Auch mir kommt beim Zuhören immer der Eindruck, dass es Berlioz in diesem Requiem eher um den Schock, als ums musikalische Gehalt ging. Generell bereitet mir dessen Musik Probleme, wobei diese nicht immer so greifbar sind, wie es bei diesem Werk der Fall ist. Im Gegensatz zu Mozart, von dem ich viele Werke auch für überbewertet halte, schafft Berlioz es durch die ein oder andere musikalische Blendgranate oder puren Exzess ja doch, Eindruck zu schinden. Das durchschauen aber nicht so viele. Deshalb freut es mich auch zu sehen, dass ich mit meiner Einschätzung nicht alleine bin.
Gruß,
Daniel Janz