Klangwolken und Gewitterstürme im Hamburger Hafen

Michael Wollny in der Elbphilharmonie, Hamburg, 15. Oktober 2021

Metallische Klangwolken ziehen auf, ganze Gewitterstürme entstehen und verhallen wieder, machen Raum für zart aufkeimende Motive und wunderbar schlichte Melodien.

Michael Wollny in der Elbphilharmonie, 15. Oktober 2021

Foto: Patrik Klein ©

von Nikolai Roeckrath

Mit einem Solo-Klavierabend stellte sich Michael Wollny am Freitagabend einer der größten Herausforderungen des Jazzpianos. Neunzig Minuten lang sitzt der Pianist im Zentrum des Saales und liefert sich schutzlos der Aufmerksamkeit des Publikums in der ausverkauften Elbphilharmonie aus. Ganz ohne Mitmusizierende, die ihn stützen, die Inspirationen aufgreifen, neue Motive entwickeln oder Ungenauigkeiten im Spiel verbergen könnten.

Und es zeigt sich: Wollny gelingt es von den ersten Tönen an, ein so ungeheures Ausmaß an Ideenreichtum, Präzision und Kreativität darzubieten, dass zu keiner Sekunde auch nur ein Hauch von Unvollkommenheit entsteht. Vielmehr versteht es der Musiker, dem Instrument unvorstellbarste Klänge und Geräusche zu entlocken: mitunter zupft, klopft oder dämpft er mit den Händen die Stahlsaiten im Inneren des Flügels, hämmert gar mit dem ganzen Unterarm auf die Tastatur.

Metallische Klangwolken ziehen auf, ganze Gewitterstürme entstehen und verhallen wieder, machen Raum für zart aufkeimende Motive und wunderbar schlichte Melodien. Diese Kontraste setzt Wollny dabei niemals effekthascherisch, sondern stets gezielt und wohldosiert ein. So wird das Hörerlebnis zu einer Reise durch die Elemente, durch Stile und Epochen. Kunstvoll verbindet er eigene Bearbeitungen eines Stücks der amerikanischen Singer-Songwriterin Tori Amos mit einer Klavier-Sonatine von Rudolf Hindemith und eigenen Kompositionen. Neben dem beachtenswerten Gespür für die Kreation von Klangwelten ist auch das pianistische Vermögen des Pianisten nicht genug zu würdigen: mühelos und präzise werden selbst komplexe Rhythmen in den beiden Händen gegenübergestellt, technisch spielt Wollny virtuos und mit großer Variabilität im Anschlag. Seine Swing-Phrasierungen und dynamischen Ausgestaltungen klingen lebendig, vielseitig und modern.

Zwischen den Stücken zeigt sich der sympathische Pianist unabgehoben und nahbar, die Freude über das Konzert vor vollen Rängen ist ihm in jeder Faser seines Körpers anzumerken. Die Musik scheint ihn schlichtweg zu durchströmen, mitunter hat man Sorge, der Stuhl könnte seinen ausufernden Bewegungen nicht standhalten.

Nach dem Auftakt des Konzertes gibt er freimütig zu, er könne selbst nicht so genau sagen, was er eben eigentlich gemacht habe. Dann berichtet er, wie er am Höhepunkt des erstmaligen Corona-Lockdowns in seinem Studio sitzt, alleine, abgeschirmt von der Außenwelt. Er habe sich dabei in Michael Collins hineinversetzt, der von Armstrong und Aldrin in der Kapsel der Apollo 11 zurückgelassen worden sei. Alleine im Mondschatten, über 46 Minuten und 38 Sekunden ohne Funkkontakt zur Erde – exakt dieser Dauer entspricht Wollnys Album „Mondenkind“.

Und tatsächlich lässt Wollny im darauffolgenden Stück einen atmosphärischen Klang entstehen, wie bislang nur in Esbjörn Svenssons Trioversion von „From Gagarin’s Point of View“ erlebt.

Michael Collins, der von der Presse zum „vermutlich einsamsten Menschen der Welt“ stilisiert wurde, beschrieb sein Innenleben damals als Zustand der „Bewusstheit, Erwartung, Zufriedenheit, Zuversicht“.  Wie wunderbar ist es doch, wieder gemeinsam im Konzert zu sitzen, Erfahrungen zu teilen und dem Leben im Inneren der Kapsel lauschen zu dürfen.

Nikolai Röckrath, 19. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik.begeistert.at

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