Camilla Nylund darf nicht nur als Ersatz für Anja Harteros gelten – sie hat jeden Ton genau so intoniert, moduliert, geatmet, wie es sein muss – bei einer unglaublichen Textverständlichkeit. Und doch: Ein bisschen so wie beim späten Karajan hätte ich mir gewünscht, es hätte etwas Gebrochenes durchgeschimmert. Es hätte etwas weniger geglänzt. Es wäre ein wenig mehr zu Herzen gegangen.
Deutsche Oper Berlin, 4. Dezember 2021
Foto: Camilla Nylund (c) Anna S. /Deutsche Oper Berlin
4. Sinfoniekonzert: Richard Wagner, Richard Strauss
Camilla Nylund
von Sandra Grohmann
„Nu is se dod“, bemerkte meine Begleitung im Stil der Ribbeck’schen Dorfjugend trocken, als die letzten Töne von Isoldes Liebestod verklungen waren. In der Tat: Nichts regte sich außer etlichen in die Stille klatschenden Händen. Dabei war alles perfekt gewesen. Camilla Nylund, die beim 4. Sinfoniekonzert der Deutschen Oper Berlin für Anja Harteros eingesprungen war und weiß Gott nicht nur als Ersatz gelten darf, hat jeden Ton genau so intoniert, moduliert, geatmet, wie es sein muss – bei einer unglaublichen Textverständlichkeit. Und doch: Ein bisschen so wie beim späten Karajan hätte ich mir gewünscht, es hätte etwas Gebrochenes durchgeschimmert. Es hätte etwas weniger geglänzt. Es wäre ein wenig mehr zu Herzen gegangen. Mit dieser leicht erdigen, warmen Stimme muss das doch drin sein! War es heute nicht. Nicht einmal das Glas Champagner vor der Aufführung hat die Sache spritziger gemacht.
Dabei war das Programm klug gewählt: Auf Weberns Langsamer Satz (in der Fassung für Streichorchester – warum dies, wird nicht erklärt) folgten die Wesendonck-Lieder. Nach der Pause Strauss’ Tod und Verklärung und schließlich das Tristan-Vorspiel und der Liebestod. Wegbereiter der Moderne fanden sich so zusammen, ohne dass es zu verkopft gewesen wäre: Alles gut hörbar für heutige Ohren. Aber schon bei Webern fragte ich mich, ob der wenn auch ausgezeichnete Champagner schuld daran war, dass die Dynamik im Orchester, sollte sie vorhanden gewesen sein, nicht in mein Ohr drang. An meinem Platz im Parkett Mitte lag es jedenfalls nicht und an der Maske auch nicht. Bei Wesendoncks wurde es besser, wenn auch (wie sage ich das jetzt vornehm:) wenn auch die präzise, wunderbar ausgeformte Darbietung es nicht vermochte, meiner substanzbedingten Heiterkeit ein wesentliches Quantum musikalischen Überschwangs hinzuzufügen.
Angesichts der Umstände habe ich auf weiteren Alkoholkonsum in der Pause verzichtet und ernüchtert festgestellt, dass mein Hörvermögen sich dadurch nicht verbesserte. Dem offensichtlich engagierten Spiel entsprach in mir bedauerlicherweise immer noch keine Regung. Dem Tod folgte keine Verklärung, sondern der Wunsch, die von Strauss in der Coda auskomponierten Motive bitte kein fünftes Mal in ebenderselben Weise ertragen zu müssen wie sie zuvor schon dargeboten worden waren. Vielleicht blieben die Klänge in der Bühne stecken. Vielleicht lenkte es mich heute ab, den Musikern zuzusehen. Aber auch Augen schließen half nicht: Besser hören konnte ich auf diese Weise nur den wunderbar warmen Nachhall, den die Holzvertäfelung dem Raum schenkt.
Blieben Tristan und Isolde. Während des Vorspiels blickte Camilla Nylund in ihrer blauen Konzertrobe, die das 19. Jahrhundert als solches zusammenzufassen schien, verklärt in die Höhen des Zuschauersaals. Mich beruhigte, dass sie hingerissen lauschte, während ich mich fragte, wohin ihr Blick zielte, ob ihr Kleid eigentlich bequem genug ist zum Singen und ob sie sich mit dem ebenfalls blau gewandeten Juraj Valcuha am Pult kleidungsmäßig abgestimmt hat. Dann setzt sie mit einem bezaubernden Pianissimo ein. Es bleibt der beste Moment des Abends.
Vielleicht lag die Ursache meiner Zwiespältigkeit auch am Publikum. Die einen wussten nicht, wann sie klatschen sollten (und vor allem, wann nicht), die anderen zupften während der leisesten Stellen an ihrer raschelnden Maske, und die Dame neben mir streichelte ab der Heldenverklärung bis zu Isoldes letztem Ton mit enervierender Konsequenz scharrend ihre Handtasche. Es hätte ein großer Abend sein können. Macht nichts. In meinem Kühlschrank steht noch ein Piccolo.
Sandra Grohmann, 4. Dezember für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
Leoš Janáček, Katja Kabanowa Komische Oper Berlin, 27. November 2021 (PREMIERE)
Yulianna Avdeeva, Piano 16. Oktober 2021 in Berlin, Boulez-Saal
„Nicht einmal das Glas Champagner vor der Aufführung hat die Sache spritziger gemacht“
Haha, herrlich. Ich habe es mir angewöhnt, Konzerte und Opern immer vollkommen nüchtern zu betrachten. Die Musik sollte Droge genug sein. Wenn sie nicht wirken sollte, dann kann ich klaren Blicks beurteilen, weshalb. Alles andere ist verzerrendes Beiwerk, dass die Wahrheit nur mit einem falschen Filter ummantelt.
Jürgen Pathy