La Cenerentola 2, 10. Januar 2022, Wiener Staatsoper/Foto: © privat
An der Wiener Staatsoper kämpft man aktuell mit enorm geringen Auslastungszahlen. Mit Corona ist natürlich schnell ein Schuldiger gefunden. Dennoch muss man sich den Umständen stellen und neue Lösungsansätze probieren.
von Jürgen Pathy
Ein Anblick, der wirklich schmerzt. Was man sich vor wenigen Jahren nicht Mal in den schlimmsten Träumen hätte vorstellen können, scheint nun Realität: Es ist Montagabend, 10. Januar 2022, kurz vor 19:00, an der Wiener Staatsoper steht „La Cenerentola“ am Programm – Rossinis Belcanto-Feuerwerk, das mit akrobatischen Gesangseinlagen lockt – und keiner geht hin. Mit geschätzten 300 Besuchern herrscht in einem der bedeutendsten Opernhäuser dieser Welt gähnende Leere.
Einige Besucher wollen einfach nicht mehr
Wie es dazu kommen konnte, mag für viele auf der Hand liegen: Corona ist schuld. Immerhin gelten seit 26. Dezember 2021 nicht nur die bereits gewohnten Beschränkungen wie FFP2-Maske und 2G, sondern eine extrem verschärfte 3G-plus-Regelung. Heißt so viel wie: 3 Mal geimpft, FFP2-Maske und oben d’rauf noch ein negativer PCR-Test, der zum Zeitpunkt des Vorstellungsendes nicht älter als 48 Stunden sein darf. Sonst gibt es keinen Einlass. Es zählt der Zeitpunkt der Abnahme. „Booster“ oder „Booster-Plus“ nennen das einige, manche sogar „1G plus“. Ein grammatikalisches Wirr-Warr, bei dem man schnell einmal den Überblick verlieren kann.
Dass bei all den Restriktionen einige Besucher die Nase voll haben, wundert nicht. „Ich bin 3 Mal geimpft, ich hole mir keinen extra PCR-Test“, schimpft eine Dame, die sonst regelmäßig Vorstellungen in der Wiener Staatsoper besucht. Wie ihr geht es vermutlich auch anderen. Einige wiederum, die gerne würden, dürfen nicht. Um den viel zitierten „dritten Stich“ überhaupt zu erhalten, müssen mindestens vier Monate vergangen sein seit der zweiten Impfung. Eine Hürde, die selbst die Willigen nicht immer bewältigen können. Immerhin dürfen sich viele somit noch gar nicht „boostern“ lassen. Was das für diese Personen bedeutet, ist klar: ein einstweiliges Hausverbot.
Würde man es ganz genau nehmen, müssten sogar sechs Monate zwischen zweiter und dritter Impfung vergehen. Nur mit der Unterzeichnung eines zusätzlichen Formulars sei der „Booster“, wie er vielerorts genannt wird, bereits nach vier Monaten möglich. So zumindest die Information eines jungen Herren, der vor einem Wiener Supermarkt eine schnell aus dem Boden gestampfte und provisorisch wirkende Impfstelle beaufsichtigt. Wann genau man sich die Drittimpfung holen darf, berechne einem ein Programm auf der Homepage der AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH).
An der Wiener Staatsoper fehlen die Touristen hinten und vorne
Dass das natürlich alles andere als gute Vorzeichen sind, um die Wiener Staatsoper wieder mit pulsierendem Leben zu füllen, ist offensichtlich. Hinzu kommt noch eine weitere Erschwernis: Der Umstand, dass zurzeit viele Touristen ausbleiben. Diese haben rund um die Weihnachtszeit bis zu 70 % der Kartenverkäufe ausgemacht, heißt es vonseiten der Direktion. Damit hat nicht nur die Wiener Staatsoper zu kämpfen, sondern der Tourismus generell.
Die Statistik der Österreich Werbung zeigt, dass die Nächtigungen in Wien seit der Pandemie drastisch eingebrochen sind. Im Vergleich zur Vorpandemiezeit 2019 verzeichnete Wien im November 2021 ein Minus um ganze 60,1 %. Das schlägt sich auf die Besucherzahlen der Wiener Staatsoper nieder.
Vielleicht könnte man auch noch ins Rennen werfen, dass andere Vorstellungen besser besucht wären. Dass „La Cenerentola“ nun nicht unbedingt ein Publikumsmagnet sei. Der Blick auf die Auslastungszahlen vor der Pandemie offenbart allerdings anderes. Bis auf etwas geringere Zuschauerzahlen auf den Stehplätzen, waren die Sitzplätze damals ebenso dicht gefüllt wie bei allen anderen Vorstellungen. Gut möglich, dass der Stehplatz allerdings ein Indiz ist. Dort herrscht im Augenblick dasselbe Trauerspiel. Empirisch belegt ist aber nichts.
Das Fehlen großer Namen dürfte das magere Interesse aber nicht begründen. Obwohl bei „La Cenerentola“ zwar keine tenoralen Superstars auf der Bühne gestanden haben, gastierte mit Erwin Schrott als Alidoro nun auch kein Unbekannter. Ganz im Gegenteil: Anna Netrebkos Ex zählt in Wien zu den Publikumslieblingen. Außerdem sind andere Vorstellungen wie „Werther“ mit Juan Diego Flórez auch nicht sonderlich gut besucht. Und das, obwohl die Karten über Culturall teilweise um 50 % vergünstigt verschleudert wurden.
2G plus statt 3G plus als Zwischenlösung?
Die Ursachen sind also bekannt. Corona hält nicht nur die ganze Welt in Atem, sondern vor allem die Kulturbranche weiter fest im Würgegriff. Das wird sich so schnell vermutlich nicht ändern. Insbesondere die aktuell dominierende Omikron-Variante, die zwar weniger dramatisch verlaufen soll, aber ansteckender sei, dürfte wieder vermehrt die Angst schüren. Immerhin dürfte das klassische Publikum, dessen Altersdurchschnitt eher höher ist, auch vermehrt zur Risikogruppe zählen.
Dennoch darf man nicht den Fehler begehen und die triste Situation nur der Pandemie in die Schuhe schieben. Es gäbe auch andere Möglichkeiten. Das zeigt der Blick zu den Nachbarn ins Wiener Konzerthaus oder in den Musikverein Wien.
Dort gilt je nach Nachfrage und Andrang entweder die 2G plus oder die 3G-plus-Regelung. 2G plus, das bedeutet: Genesen oder geimpft plus negativer PCR-Test, der ebenfalls nicht älter als 48 Stunden sein darf. Zusätzlich zu einer Zuschauer-Begrenzung: Laut der „Verordnung“ der österreichischen Bundesregierung dürfen bei der 2G-plus-Regelung aktuell bis zu 999 Personen bei Veranstaltungen teilnehmen. Statt bis zu 2000 Personen, wie bei der 3G-plus-Regelung. FFP2-Maske ist mittlerweile sowieso selbstverständlich.
In Anbetracht der Umstände, dass bei einigen Produktionen der Wiener Staatsoper zurzeit sowieso nicht annähernd über 1000 Personen den Weg ins Haus finden, sollte man die aktuellen Zutrittsbeschränkungen auf jeden Fall überdenken. Der Zeitpunkt wäre ideal. Die Verordnung gilt vorläufig für alle Vorstellungen bis inklusive 20. Januar 2022.
Für alle, die keinen PCR-Test machen wollen, ist 2G plus zwar noch immer keine Alternative. Für andere, denen nur die Drittimpfung verwehrt bleibt, allerdings sicherlich eine wegfallende Hürde. Ebenso für alle Besucher, die durch den Dschungel der sich stetig wechselnden Zutrittsregelungen nicht mehr durchblicken. Immerhin hört man, dass viele Besucher teilweise direkt vor den Toren der Wiener Staatsoper abgewiesen wurden, weil sie die Anforderungen nicht erfüllen. Das kann und darf nicht der Zustand sein, wie in Wien mit Kulturbegeisterten umgegangen wird. Corona hin oder her.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 19. Januar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Gioachino Rossini, LA CENERENTOLA, Wiener Staatsoper, 13. Januar 2022
Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Wiener Staatsoper, 13. Dezember 2021
NABUCCO von Giuseppe Verdi Wiener Staatsoper, 1. November 2021
Hätte man an der Wiener Staatsoper auf 2G+ gesetzt und das Limit von 999 Besuchern akzeptiert, wären gewiss mehr Leute ins Haus gekommen.
Dr. Lorenz Kerscher
Genau so ist es. Totale Fehlplanung und Fehleinschätzung der aktuellen Direktion, sagt ein 3x Geimpfter (März 2021, April 2021, Oktober 2021), der den PCR-Zirkus nicht mehr mitmacht und sich im Juli 2022 wieder impfen lassen wird.
Das Foto Zuschauerraum 10.1.2022 ist beschämend, steht für die Fehlplanung.
Fred Keller
Volle Zustimmung von einem 3x-Geimpften, der aber den PCR Test-Zirkus nicht mitmacht. Da hat die Stadt Wien die falsche Entscheidung getroffen.
Fred Keller
Tonight’s performance of Werther is almost sold out.
Carolyn Ann Memmott
Sehr schön! So soll es sein! Was auch immer die Gründe sind, warum manche Vorstellungen schlechter besucht sind, man sollte generell über die Restriktionen nachdenken. Wenn ein Kaufmann kommt (Peter Grimes), eine Asmik Grigorian oder Elina Garanca, wird der Zuspruch natürlich größer sein. Beim Repertoire, wo kein großer Name zieht, würde es vielleicht Sinn ergeben, auf 2G plus runterzuschrauben. Die Verantwortlichen haben die genauen Zahlen – sie sind am Zug…
Gut möglich, dass man auf die Auslastungen aber pfeift. Immerhin wird die Wiener Staatsoper eh ordentlich subventioniert. Vielleicht wird der Fokus primär auf die Sicherheit der Besucher gelenkt. Sodass man generell nur „Geboosterte“ ins Haus lassen will. Das wäre zumindest ein Konzept.
Wie viel Sinn das macht, weiß ich nicht. Hier sind Virologen und Mediziner gefragt. Irgendwann sollte Sicherheit allerdings nicht ohne Wenn und Aber zur einzigen Prämisse mutieren. Immerhin prognostizieren viele, dass Corona uns noch länger begleiten wird. Wir sollten beginnen, mit der neuen Situation leben zu lernen. Wegsperren, Einsperren und Spalten ist nicht die Lösung. Vielleicht ist die Zeit bereit, um mal wieder einen anderen Bezug zum Leben und vor allem zum Tod zu erlangen…
Jürgen Pathy
Lawrence Brownlee nicht zu den tenoralen Superstars im Belcanto zu zählen, ist meiner Ansicht nach eine Fehleinschätzung!
Anne Weba
So ist es. Brownlee gehört neben Javier Camarena und Juan Diego Flórez zu den neuen Stars der Belcanto-Tenor-Szene…
Mat Lorey
nachdem für mich die zahlreichen verschlimmbesserungen des managements seit „neuer direktion“ auch beeinträchtigungen sind (nebst covid-massnahmen und aufführungsqualität), sinkt die motivation richtung null die vorstellungen zu besuchen. das package passt einfach nicht mehr. das management des hauses wird halt das glück haben, den abstieg des hauses auf corona und die politik schieben zu können.
Steiner
In diesen Chor können wir nur einstimmen! Wir waren seit Jahrzehnten, seit Wunderlich, Freni, Ghiauruv, Cappuccilli, Corelli, Cossotto u.s.w. regelmäßige Opernbesucher, sind dreimal geimpft und lassen uns nicht frotzeln! Unter diesen Umständen pfeifen wir auf einen Opernbesuch!
Anneliese und Ivo Drnek
Noch etwas zum Thema Regie: Ich habe nichts gegen moderne Inszenierungen, aber was ich da über die neue Tosca lese, das darf doch nicht wahr sein! Scarpia haust in einem Wohnmobil, Mario malt im Schneegestöber, und die Tosca springt nicht von der Engelsburg, sondern wird von der Attavanti erschossen!! Wie weit darf dieser Irrsinn von Selbstinszenierern noch gehen, die jede Ehrfurcht vor dem
Komponisten, jeden Respekt vor dem Librettisten vermissen lassen? Wo ist der Opernchef, der sagt: „So einen Mist nicht in meinem Haus!“, wo ist der Sänger, der sagt: „So einen Blödsinn mache ich nicht!“ Bleibt nur das Publikum, das sagt: „So einen Quatsch schaue ich mir nicht an!“
Anneliese und Ivo Drnek
Kusej, den Hirnvebrannten von Vorgestern darf man nicht mehr auf die Bühne lassen.
Dass subventionierte Theater solchen Irrsinn akzeptieren, lassen auf den Zustand auch des Intendanten schließen.
Tosca: Eine Oper, die zwingend die Geschichte vorschreibt und an keiner Stelle im Widerspruch zu sich selbst steht, – keine Note zu wenig, keine zu viel, darf hier einfach vergewaltigt werden und die Verantwortlichen werden nicht zur Verantwortung gezogen. Ja, man hat eine Verantwortung gegenüber den Werken .
Puccini malt das Drama ohne Makel und so sollte man es bringen. Keine Verlegung, keine LESARTEN!!! Würde man Thomas Manns Zauberberg in einer Pizzeria in Klosters spielen lassen, mit Leprakranken statt Lungengeschädigten?
In welch einem Irrsinn leben wir? Ich lobe mir Regisseure wie Giancarlo DelMonaco
der nie einen Komponisten verriet, (Noten beherrschte, Partien auswendig konnte) und dennoch immer aufregend neu erschien. Könner eben.
Das Aufregendste an dieser Tosca in Wien waren die Beine von Frau Opolais. Das wird man wohl noch sagen dürfen!!
Robert Forst
Meine Prognose ist, dass die Booster-Impfung sehr bald auch an anderen Häusern Zugangsvoraussetzung wird. Ein großes Problem ist aber vor allem die Opern-Gastronomie. In Hamburg (Staatsoper) hat man den Eindruck, dass viele Gäste dort weniger an ihrem Getränk als an dem damit verbundenen „Freifahrtsschein“ in Sachen Maskenpflicht interessiert sind.
Johannes Fischer