Daniels Anti-Klassiker 49: Carl Orff – „O Fortuna“ aus „Carmina Burana“ (1937)

Daniels Anti-Klassiker 49: Carl Orff – „O Fortuna“ aus „Carmina Burana“ (1937),  klassik-begeistert.de

Foto: Daniela-Maria Brandt Carl Orff-Stiftung/Archiv: Orff-Zentrum München

Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen.

Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

Von Daniel Janz

1937 – eine Zeit politischer Instabilität in Europa, musikalisch geprägt durch die ersten Experimentalmusiken einiger Künstler der „Neuen Musik“ inklusive reger ästhetischer Debatten – kurzum eine durch und durch bewegte Zeit. Es verwundert daher, in dieser Zeit ausgerechnet die Entstehung eines Werkes zu verorten, das sich fast schon rückwärtsgewandt mit mittelalterlichen Texten, größtenteils lateinischer Sprache und traditioneller Kompositionskunst beschäftigt. Und doch gelang es einem Komponisten, durch diesen Ansatz nicht nur eine Komposition fertig zu stellen, sondern sie auch noch zu einer der bekanntesten Musiken des 20. Jahrhunderts zu machen. Die Rede ist von Carl Orff.

Episch und groß, krachend und laut – das dürften wohl die Assoziationen sein, wenn man seinen Namen nennt. Seine gesamte Bekanntheit beruht im Wesentlichen auf einer Komposition, der so genannten „Carmina Burana“ – oder genauer gesagt auf dem gleichzeitigen Introduktions- und Schlusssatz derselben: „O Fortuna“. Der Bedeutung dieses Werks war er sich selber bewusst. Seinem Verleger soll er mitgeteilt haben: „Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!“

Bis heute ist es das am meisten beachtete Werk von Orff, wie auch eine breite Rezeptionsgeschichte belegt. Allein auf IMDB sind über 60 Referenzen zu Carmina Burana belegt, Wikipedia toppt das noch und zählt über 90. Zur Entstehungszeit soll es weltweit sogar über 20 Mal pro Monat aufgeführt worden sein – ein musikalischer Blockbuster, so könnte man sagen. Allen bisherigen Kompositionen lief er jedenfalls in punkto Epik schnell den Rang ab. Bis heute ist sein Werk aus Ausdruck von Gigantomanie ungebrochen – sogar der „größte Werbespot der Welt“ bedient sich dieser Musik:

 

Grund für diesen ungebrochenen Ruhm dürfte vor allem die umfangreiche Orchesterbesetzung sein, die Orff hier verlangt. Allein die benötigte Personenzahl kann locker mit einer Mahler-Sinfonie mithalten. Das erklärt auch den mächtigen Klang, den seine Musik stellenweise erzielt. Bis heute ist sie medial eine ernsthafte Konkurrenz zu anderen für den Ausdruck von Epik etablierten Werken, wie „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss.

Aber jetzt auch mal Hand auf’s Herz: Welche Musik glorifiziert denn eindrucksvoller Thunfisch, Hühnchen und Kuchen? Sie glauben’s nicht? Wissen Sie denn etwa nicht, was in „O Fortuna“ gesungen wird? Dann schauen Sie sich doch einmal dieses (nicht ganz ernst gemeinte) Video an:

https://www.youtube.com/watch?v=nIwrgAnx6Q8

In dem Textverständnis von Orffs Komposition mache ich auch das erste Problem aus. „O Fortuna“ als Anrufung der Glücksgöttin Fortuna ist in so bombastisch auskomponiert, als würde er ein weltbewegendes Ereignis einläuten. Die späteren Sätze stehen zu diesem Anspruch aber im krassen Gegensatz. Titel, wie (übersetzt) „Alles wärmt die Sonne auf“, „blühend wird der edle Wald“, „wenn wir sitzen in der Schenke“, „Tag und Nacht und insgesamt“ wirken plump, fast schon profan. Damit gibt die Musik selbst ein Versprechen, dass sich in diesem Werk nicht erfüllt. Viel eher ist der Text so belanglos, dass er quasi beliebig ausgewechselt werden kann. Und wie die hier gezeigten Videobeispiele verdeutlichen, gelingt das sogar beim „O Fortuna“ selbst, ohne etwas von der Wirkung der Musik zu verlieren. Das Werk lebt also im Wesentlichen aus seiner Bombastik und nicht aus dem Text. Ist ein Text aber so generisch, dass er beliebig auswechselbar ist, muss man die Frage stellen, wozu es ihn überhaupt gibt.

Das zweite Problem ist ein Rezeptionelles. Erst letzte Woche beschwerte ich mich darüber, dass klassische Musik fast nur zum Ausdruck ruhiger, gemächlicher oder generischer Szenen herangezogen wird und das Epische meistens auf Neukompositionen oder kleine Ausschnitte von Klassikern beschränkt bleibt. In diesem Sinne ist Carmina Burana neben Strauss, Beethoven und vielleicht noch Prokofjews „Tanz der Ritter“ eines von relativ wenigen Beispielen, das als Ausdruck von Epik und Großartigkeit den Absprung in die massenmediale Verbreitung gefunden hat.

Man könnte die Carmina Burana also eigentlich als eine Erfolgsgeschichte auf ganzer Linie bezeichnen. Dumm nur, dass sich auch hier wieder dieser Ruhm auf einen winzigen Ausschnitt der Gesamtkomposition bezieht. Jeder kennt das epische „O Fortuna“ durch dessen Medienpräsenz. Aber geht man dann einmal die anderen Satztitel durch, herrscht schnell Ratlosigkeit. Auch hier ist wieder eine musikalische Kastration auf einen wenige Sekunden langen Ausschnitt Gang und Gebe. Das Werk selbst dauert aber über eine Stunde – fast so lang, wie Beethovens neunte!

Zu guter Letzt überzeugt mich Orffs Musik auch kompositorisch nicht. Denn was er hier angeblich ausdrücken wollte, ist das Konzept von Glück auf unterschiedliche Stadien des Lebens. Dazu bediente er sich 24 ausgewählter Texte aus der „Carmina Burana“ von Johann Andreas Schmeller und stellte sie recht frei unter der Idee zusammen, dadurch einen Zyklus von Glück über Unglück nach dem Vorbild von Fortunas Glücksrad nachzuzeichnen. Das Konzept, das Umschlagen des Glückrades musikalisch abzubilden, ist auch ein durchaus spannendes.

Schade ist nur, dass sich dieses Konzept musikalisch nicht wiederfindet. Das mag an zwei Dingen liegen: Erstens erstellte Orff eine komplette Neukomposition, wollte seine Musik aber an der Stilistik des Mittelalters ausprägen. Entsprechend finden sich typische Merkmale dieser Zeit, wie lange Bordunquinten, harmonische Schlichtheit und sogar Kirchentonarten, aber kombiniert mit neuen, modernen Melodien. Der Ausdruck von Altem mag so zwar angestrebt sein, ist aber nicht immer authentisch.

Dazu muss man auch fragen: Wozu braucht er über 100 Musiker auf der Bühne, wenn er sie kaum nutzt? Denn Polyphonie sucht man hier oft vergeblich. Stattdessen findet man eine harmonische Stagnation, die man als fehlende Entwicklung, wenn nicht sogar als Reizlosigkeit auslegen kann. Nun müssen Einfachheit von Themen und Melodien, Modulationsarmut und Konzentration auf wenige Harmonien keine Negativkriterien sein, wie wir auch – beim vorerst letzten Beitrag dieser Serie – nächste Woche sehen werden. Bei Orff ist dies aber weniger stilistisches Mittel, als konsequentes Programm. Darunter leidet sein ursprüngliches Konzept, weil der Wechsel von Glück ins Unglück sich harmonisch nicht nachvollziehen und dadurch erfahren lässt. Da hätte vielleicht ein bisschen mehr Dur/Moll geholfen.

Es ist in Summe also kein Wunder, dass die mediale Aufmerksamkeit sich alleine auf das „O Fortuna“ mit seinen mächtigen Orchesterausbrüchen beschränkt und die anderen Teile der „Carmina Burana“ nur im Konzertkontext Beachtung finden. In meinen Augen stellt Orffs bekannteste Komposition daher eine vertane Chance da, die mehr Konzept als Können, mehr Idee als Ergebnis ist. In ihrer jetzigen Form erreicht sie zwar einen gewissen Ausdruck. Aber reicht sie an die wirklich epischen Musiken heran, die wir als Klassik-Liebhaber von Wagner, Beethoven, Mahler, Strauss, Schostakowitsch etc. kennen? Das wage ich dann doch anzuzweifeln.

Daniel Janz, 4. Februar 2022, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Carl Orff, Carmina Burana, Staatenhaus Köln

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2 Gedanken zu „Daniels Anti-Klassiker 49: Carl Orff – „O Fortuna“ aus „Carmina Burana“ (1937),
klassik-begeistert.de“

  1. Lieber Herr Janz,
    auch dieses Mal kann ich Ihnen leider nicht folgen. Die „Carmina burana“ von Orff sind mehr als der Eingangssatz „O Fortuna“. Muss man nicht im Gegenteil sagen, dass dieser Satz ein genialer Wurf ist, der neugierig macht und ein großes Tor öffnet? Sie bemängeln das Fehlen von Polyphonie. Der Mann wollte das Mittelalter heraufbeschwören, da gab es noch keine Polyphonie, und wenn, dann nur in der gleichen archaischen Weise, wie Orff sie verwendete. Sich vor allem auf den Eingangssatz zu fokussieren vergisst solche wunderbaren Sätze wie Veris leta, Tanz, Reie, Estuans interius, In taberna, Veni venias (mir unbändigem Rhythmus!) und In trutina (voller Empfindungen). Der gebratene Schwan ist ein Kabinettstück ersten Ranges, das wäre der Höhepunkt in jeder Oper. Und noch einer: Tempus est iocundum, ein Satz, den Kinderchormitglieder, die einmal im Leben Oh, oh, oh, totus floreo gesungen haben, ihr Leben lang nicht mehr vergessen werden.
    Ich denke, dass Carmina burana ein Werk mit großer kompositorischer Spannbreite ist, abwechslungsreich und unterhaltsam. Was will man mehr? Genau das macht die Beliebtheit dieses Werkes aus.

    Prof. Karl Rathgeber

    1. Lieber Herr Prof. Rathgeber,

      Haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Natürlich sind die Carmina Burana mehr, als nur das „O Fortuna“, da stimme ich Ihnen direkt zu. Das ist ja auch einer der Kritikpunkte, die ich an der heutigen medialen Verwendung dieses Werkes habe, die sich ja nur auf das „O Fortuna“ beschränkt und den Rest des Werkes vergisst.
      Ich sehe den Grund für diese Beschränkung allerdings in der Methodik, wie Orff seine Komposition aufgezogen hat. Ja, der Mangel an Polyphonie mag zurück auf das Mittelalter gehen, stilistisch lässt sich das alles erklären. Wenn man aber doch ohnehin nur eine Illusion des Mittelalters erzeugt – weder Melodien noch Instrumente sind ja authentisch mittelalterlich – dann ist doch die Frage, warum man dann alles andere, was – damals wie heute – möglich ist außen vor lässt? Ich bin jedenfalls der Meinung, da wäre mehr drin gewesen.

      Daniel Janz

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