Das Ensemble tanzte erstklassig, einschließlich der berühmten diagonalen Grand jetés der Damen, geführt an den Händen der Herren des Balletts. Die beiden großen Pas de deux im zweiten und im letzten Bild wurden dank Polina Semionova, die von Alexei Orlenco gut gepartnert wurde, zum Höhepunkt der Aufführung.
Das Onegin Ensemble beim Schlussbeifall: Yevgeniy Khissamutdinov (Gremin), Polina Semionova (Tatjana), Alexei Orlenco (Onegin), Alizée Sicre (Olga), Alexander Bird (Lenski) (Foto: RW)
Staatsoper Unter den Linden, 20. Mai 2022
Peter I. Tschaikowsky
ONEGIN
Musik von Peter I. Tschaikowsky (eingerichtet und arrangiert von Kurt-Heinz Stolze)
Staatsballett Berlin
Staatskapelle Berlin
Ido Arad, Dirigent
von Dr. Ralf Wegner
John Cranko schuf mit seiner Onegin-Choreographie auf Puschkins Versroman ein wohl unsterbliches Ballett, in dem sich ein junges Mädchen vom Lande unglücklich in einen Nachbarn verliebt. Bei diesem Nachbarn handelt es sich um den dandyhaft auftretenden, des Lebens offenbar bereits überdrüssigen, reichen Eugen Onegin, der vor kurzem sein Landerbe angetreten hat. Der Dorfklatsch verkuppelt ihn mit der stillen Tatjana Larina, deren Schwester Olga bereits mit Onegins Gutsnachbarn Lenski anbandelte. Der erst 18jährige Wladimir Lenski schwärmt nicht nur für Olga, sondern auch für den lebenserfahreneren Onegin (Als hübscher Bursch mit viel Vermögen kam Lenski als ein Freiersmann den Landfamilien sehr entgegen…Doch Lenski schien aus guten Gründen solch zarte Fesseln noch zu scheun und wünschte, statt sich schon zu binden, vorerst Onegins Freund zu sein).
Onegin kennt Tatjana kaum, hat ihr gegenüber auch nicht andeutungsweise eine über das Förmliche hinausgehende Zuneigung geäußert; und er reagiert auf den verliebten Jungmädchenbrief Tatjanas hochanständig, nutzt die Situation nicht aus. Auch Tatjanas Gefühle für Onegin entwickelten sich eher allmählich und nicht im Sinne einer Liebe auf den ersten Blick, wie Crankos Ballett es nahe legt. Erst der Dorftratsch ermuntert Tatjana, sich in eine Jungmädchenliebe hineinzusteigern (Tatjana ärgerten die Lügen. Dann, nach und nach, ganz insgeheim, empfand sie dabei doch Vergnügen. Unmerklich wuchs der Neigung Keim; bis endlich, was den Blick noch trübte, der klaren Sonne wich: Sie liebte).
Man versteht Onegin schon, wenn er sich über die spätere Einladung zu Tatjanas Namensfest ärgert. Die Freundschaft mit Lenski ist bereits brüchig geworden, zum einen wohl wegen des Altersunterschieds, zum anderen hat Onegin offenbar keinen Sinn mehr für Lenskis Schwärmereien, auch ihm gegenüber. Vielleicht wollte er Lenski auch nur auf Olgas Flatterhaftigkeit aufmerksam machen, als er diese am Namenstag anflirtet (Olgas Trauer war anfangs tief, doch bald vorbei). Jedenfalls liegt Onegin nichts an Olga. Es gelingt ihm aber auch nicht, den Duell-Teufelskreis zu durchbrechen. Warum hat er Lenski eigentlich nicht kampfunfähig geschossen? Er scheint ein guter Schütze gewesen zu sein. Warum bedrängt er Jahre später die bereits gebundene Tatjana so sehr? Soll sie ihn aus seiner sich immer wieder einstellenden Schwermut befreien? Viele Fragen bleiben offen. Wie bei einer großen Erzählung lässt sich manches aus dem Text herauslesen oder auch hineindeuten.
Der Choreograph Cranko deutet nicht, lässt aber den Tänzerinnen und Tänzern Interpretationsmöglichkeiten. So könnte Onegin Tatjana schon im ersten Bild reinen Wein ob der Aussichtslosigkeit ihres Begehrens einschenken und den Schluss Pas de deux als Ende einer Beziehung, die nie einen Anfang hatte, anlegen: Als Rückblick auf die Möglichkeit einer Liebe, nach der nicht mehr viel kommt. Auch für Tatjana könnte der letzte Pas de deux nur noch eine hingebende Erinnerung an eine früher empfundene, überwundene Leidenschaft sein; denn ihre wahre, zur Treue fähige Liebe gilt mittlerweile ihrem angetrauten Ehemann, dem Fürsten Gremin (Yevgeniy Khissamutdinov).
Polina Semionova war als Tatjana besetzt. Sie glitt durch das Stück wie eine Feder, tänzerisch und darstellerisch ohne Fehl und Tadel. Für sie bestand die Liebe zu Onegin fort, sie litt unter dem Ende, sie wusste aber, dass es für sie keinen Weg zurück gibt. So großartig Polina Semionova auch tanzte, für die Interpretation des Stücks bedeutender ist die Frage, wie Onegin (Alexei Orlenco) mit der Beziehung umgeht. Man kann doch nicht ernsthaft annehmen, dass ihm die Aussichtslosigkeit seines späten Werbens nicht klar ist. Vielleicht wirbt er gerade deshalb so intensiv um Tatjana. Es könnte ein Aspekt seiner immanenten Todessehnsucht sein, einer Melancholie gleich, die schon Jahre zuvor seinem Freund Lenski (Alexander Bird) das Leben gekostet hat. Onegin treibt es immer zu weit, er stößt schließlich alles und jeden von sich, wie in einem Fieberwahn. So wäre auch die übertriebene Tändelei mit der lebenslustigen Olga (Alizée Sicre) plausibel.
In diese Tiefen der Psyche Onegins, immerhin heißt das Ballett Onegin und nicht Tatjana, stößt Alexei Orlenco nicht vor. Sein Onegin bleibt am Text, was ja auch nicht das Schlechteste ist. Gleiches gilt für Alexander Bird als Lenski; er gibt mit Alizée Sicre ein schönes Paar ab, sein großes Solo vor dem Duell könnte aber durchaus mehr von der Tragik dieses jungen, sich von Onegin hintergangen und enttäuscht Fühlenden zeugen.
Das Ensemble tanzte erstklassig, einschließlich der berühmten diagonalen Grand jetés der Damen, geführt an den Händen der Herren des Balletts. Die beiden großen Pas de deux im zweiten und im letzten Bild wurden dank Polina Semionova, die von Alexei Orlenco gut gepartnert wurde, zum Höhepunkt der Aufführung. Der Schlussbeifall war herzlich, mit Jubel für Alexei Orlenco und Polina Semionova sowie für Alizée Sicre und Alexander Bird.
Dr. Ralf Wegner, 22. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
Dornröschen, Peter I. Tschaikowsky, Staatsballett Berlin Deutsche Oper, Berlin, 19. Mai 2022
Anna Karenina, Ballett von John Neumeier, Staatsoper Hamburg, 06. Mai 2022