Foto: © Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper, 11. Juni 2022 PREMIERE
Claudio Monteverdi, L’Orfeo
von Jürgen Pathy
Die Grenzen verschwimmen. Wem gestern Abend nicht klar gewesen sein sollte, ob er noch auf der Regenbogenparade tanzt oder bereits in der Wiener Staatsoper weilt, den sollte man nicht für durchgeknallt erklären. Mit dem Briten Tom Morris hat man einem Regisseur die Neuproduktion von Monteverdis „L’Orfeo“ anvertraut, der gemeinsam mit Kostümbildnerin Anna Fleischle ein fast ebenso opulentes Kostümspektakel auf die Bühne gezaubert hat. Der größte Unterschied: Dröhnten draußen vor den Toren überwiegend Techno, House und Dancebeats aus den Boxen, schmeichelte drinnen der Concentus Musicus mit lebhafter Barockmusik, die weltweit wohl ihresgleichen sucht.
Eintauchen in die bunte Welt von Monteverdi
Dragqueens, nackte Haut und bizarre Outfits. Deren durfte man sich gestern nicht nur auf der Wiener Ringstraße erfreuen, wo kolportierte 250.000 Teilnehmer eine friedliche Demo für die Rechte der LGBT-Community veranstaltet hatten, auch in der Wiener Staatsoper feierte man ein üppiges Fest. Zumindest über weite Strecken vor der Pause, wo sich das Volk um zwei Holztische versammelt hatte, um der Hochzeit von Orfeo und Euridice beizuwohnen. Der Ort: Irgendwo in einem abgelegenen Druidenhain. Das Motto der schrill-gekleideten Inszenierung: Mittendrin statt nur dabei.
„In 20 Minuten geht es los“, tönte es aus den Lautsprechern, da war noch kaum ein Zuschauer im Saal in Sicht. 10 Minuten vor Beginn der Aufführung dann bereits ein buntes Treiben auf der Bühne. Extravaganter Kopfschmuck, schräge Typen und gestählte Oberkörper. Alles mit dabei, ehe ein Typ im bunten Hipster-Style-Outfit gekleidet die Bühne betritt, sodass Maurice Ernst, Frontman der österreichischen Kultband „Bilderbuch“ vor Neid erblassen würde. Aufgrund seines extravaganten Kleidungsstils rangiert Ernst in Mode-Rankings regelmäßig unter den Top Ten.
Dass es sich dabei um Orfeo handelt, alias Georg Nigl, ist anfangs nicht sofort klar. Vor allem, wenn man Monteverdis Meisterwerk nur vage von Aufnahmen oder Videos kennt.
Die Entdeckung des Abends
Mit einem tiefen lyrischen Tenor sei die Partie zu besetzen, auch mit einem lyrischen Bariton, ist dem „Handbuch der Oper“, kurz nur „Kloiber“ genannt, zu entnehmen. Einem Nachschlagewerk für Opern, auf dessen Grundlage Sänger angeblich sogar ihre Besetzungen anfechten dürfen, sollte es im Kloiber anders vermerkt sein. Ob das wirklich der Realität entspricht, weiß ich nicht. Fest steht hingegen allerdings, dass Georg Nigl, geboren in Wien, zu den begnadetsten Stimmen dieser Welt zu zählen ist.
Wo hat sich dieser Bariton bislang nur verkrochen, mein erster Gedanke. Da war sein Bangen um die große Liebe bereits weit fortgeschritten und ich schwebte irgendwo zwischen Himmel und Hölle. Eigentlich habe man ihn an der Wiener Staatsoper schon des Öfteren gehört, gibt Georg Nigl zu bekennen, als er nach der Premiere noch einige Autogrammjäger glücklich stimmte: „Papageno in der Zauberflöte, in Orest und in der Fledermaus.“ Viel zu selten, denke ich mir, da war der zweite Gedanke schon längst verflogen: Was hat sich der Fährmann der Toten nur dabei gedacht, mit Nachdruck zu behaupten, Orpheus’ Stimme schmeichle ihm nur ein wenig. Ein Frevel, denke ich, wer derart missbilligend über eine Stimme urteilt, die bisweilen an den Jahrhundertbariton Christian Gerhaher erinnert. Sei es auch nur dem Libretto Monteverdis geschuldet, dem Wolfgang Bankl als Fährmann eindrucksvoll Genüge tat.
Dazu das Sujet der Oper auf zwei Sätze heruntergebrochen: Nachdem seine Frau Euridice von einer Schlange gebissen in der Unterwelt landet, versucht Orpheus sie zu retten. Obwohl er das beinahe schafft, misslingt das Unterfangen, weil er seiner Leidenschaft unterliegt.
Die zweite große Überraschung
Schuld zuweisen, darf man vermutlich nur den wenigsten. Nicht Christina Bock, die als Botin / Proserpina die zweite große Entdeckung des Abends war. An ihrem runden, klaren Mezzo, der frei von jeglichem dramatisch angehauchten Timbre ist, sollte es bei Monteverdi in Zukunft kein Vorbei geben. Ebenso wenig wie an Kate Lindsey, die allerdings eher im piano und im mezza voce überzeugt als in den anfänglichen Ausbrüchen. Schuld an Orpheus’ Versagen ist und bleibt er letztendlich vermutlich selbst.
Dass Georg Nigl aber auf dem Weg ist, das Wiener Publikum zu erobern, daran besteht überhaupt kein Zweifel. „Mir hat sein Vibrato und seine klare Stimme besonders gut gefallen“, lobte ein Stammgast. Große Zustimmung auch für den Rest des Casts. Selbst das Team rund um Regisseur Tom Morris, das auf dem überdimensionalen Pentagramm der Bühne Aufstellung nimmt, erntet lauwarmen Applaus. Am Ende kein einziges Buh, obwohl sich danach viele einig waren: „Mir ist es anfangs viel zu bunt gewesen.“
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 12. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pablo Heras-Casado, Musikalische Leitung
Tom Morris, Inszenierung
Anna Fleischle, Bühne & Kostüme
Kate Lindsey, Die Musik / Die Hoffnung / Echo
Georg Nigl, Orfeo
Slávka Zámečníková, Euridice
Christina Bock, Botin / Proserpina
Andrea Mastroni, Plutone
Wolfgang Bankl, Caronte
Hiroshi Amako, Apollo
Sehr geehrter Herr Kollege!
Wie ich mit Freude Ihrem Premierenbeitrag entnehme, schätzen auch Sie Kloibers „Handbuch der Oper“. Nicht gewusst habe ich, dass die Akzeptanz seitens der SängerInnen auch so groß ist.
Mit besten Grüßen
Lothar Schweitzer
Lieber Herr Schweitzer,
überspitzt ausgedrückt: Ohne im Kloiber nachzuschlagen, wage ich es kaum, die Oper zu betreten – zumindest bei Werken, die mir relativ fremd sind. Auch sonst ist er enorm dienlich, wenn es darum geht, etwas über Besetzungen, Stimmen und Sujets zu erfahren.
Liebe Grüße
Jürgen Pathy