Photo: Victor Santiago ©, Sonya Yoncheva
Prinzregententheater, München, 13. Juli 2022
Festspiel-Barockkonzert: Sonya Yoncheva
Sonya Yoncheva, William Christie und Les Arts Florissants
Wucht der Erregung und Gefahr des Affekts
von Willi Patzelt
Musica laetitiae comes medicina dolorum – Die Musik als gleichzeitige Gesellin der Fröhlichkeit und Medizin der Schmerzen. Wie richtig – und außerdem in großen Lettern auf der Innenseite des aufgeklappten Cembalo-Deckels am Abend des 13. Juli 2022 im Prinzregententheater. Für alle anwesenden Lateiner ein Vorgeschmack für das, was da kommt. Für alle anderen erschließen sich diese Worte in den darauffolgenden gut 70 Minuten – ganz ohne Wörterbuch, ganz durch die Musik.
Angesetzt ist für das Festspiel-Barockkonzert ein reines Händel-Programm. Obschon reine Barock-Programme wohl auf den Spielplänen der Nation nicht mehr so häufig anzutreffen sind, was schade ist, ist dieses umso deliziöser besetzt. Sonya Yoncheva ist eine Instanz auf den Opernbühnen dieser Welt. Als Tosca oder Desdemona bekannt und geliebt, ist die Bulgarin allerspätestens seit 2018 auch im Barockfach eine Größe. Monteverdis letzte und wohl auch innovativste Oper „L’incoronazione di Poppea“ wurde bei den Salzburger Festspielen 2018 zum großen Erfolg – nicht nur dank der von der Kritik umjubelten Sonya Yoncheva, sondern auch durch die Interpretation von Altmeister William Christie und seinem 1979 gegründeten und für seine historisch informierte Spielweise renommierten Barockensemble Les Arts Florissants. Nun also in München Christie und Yoncheva mit Händel. Der Besetzungszettel versprach Großes.
Umso fraglicher ist warum sich der Saal des „Prinze“, bei weitem nicht ausverkauft, mit seinen gut tausend Plätzen sich nicht jener Zuhörermenge erfreute, die das Programm, zumal in dieser Besetzung, sicherlich verdient hätte. Ist Barockmusik, gar in historisch informierter Aufführungspraxis, für viele Wagner- und Puccini-Freunde immer – keiner würde es freilich zugeben – noch ein musikalisch minderwertiger und emotional unreifer Zeitvertreib? Diese Deutung wäre wohl ähnlich überkommen wie böswillig.
Jedoch muss sich wohl die neue Führung der Bayerischen Staatsoper unter Intendant Serge Dorny und GMD Vladimir Jurowski doch ernsthaft die Frage stellen, ob die Opernfestspiele insgesamt mit Flaggschiffen wie Schostakowitschs verstörendem Jugendwerk „Die Nase“ oder Pendereckis „Teufel von Loudun“ wirklich jene Attraktivität bieten, mit der Nikolaus Bachler und Kirill Petrenko regelmäßig die Häuser füllten. Die recht vielen noch verfügbaren Karten für die kommenden Vorstellungen der Opernfestspiele sind ebenso ungewöhnlich für München wie vielsagend bezüglich der Resonanz auf die Schwerpunktsetzung der Herren Dorny und Jurowski.
Nun, wie dem auch sei. Dieser Abend sollte jene, die gekommen sind, nicht enttäuschen. Neben den teils bekannteren und teils unbekannteren Arien aus den großen Händel-Opern musizierten Les Arts Florissants – Christie leitete das klein besetzte Ensemble vom Cembalo aus – eines der für Händel so stilprägenden concerti grossi (op. 6/7, B-Dur). Mit großer Versiertheit und Farbigkeit lotete das Ensemble die Spannweite musikalischer Interpretation aus. Man merkte in jedem Takt die Erfahrung, die Harmonie und das einander geschenkte blinde Vertrauen der Musiker untereinander.
Kritikern und Skeptikern der historischen Aufführungspraxis dürften die doch teilweise sehr feingliedrige Phrasierung sowie die hohen Tempi der schnellen Sätze missfallen haben. Das betörende Anschwellen eines langen Tons auf einer tief – also irgendwie „original“ – gestimmten Darmseite ist zwar überaus lieblich. Wenn jedoch das so typisch plötzliche erste, vorangegangene Abschwellen in einer Intensität passiert, die dem Zuhörer die Möglichkeit nimmt, der musikalischen Sprachmelodie zu folgen, dann fehlt der große emotionale Bogen. Um nicht falsch verstanden zu werden:
Dieser lässt sich nicht nur, wenn überhaupt, mit der heute etwas aus der Zeit gefallen Ausdrucksweise im Stile Karl Richters erzeugen. William Christie und seinen Musikern gelang dies phasenweise gut – freilich eben nicht die ganze Zeit. Denn so viel Klarheit diese Art der Interpretation von Barockmusik schenkt, so sehr verleitet der aus aller Klarheit gewonnene Raum, der zwar der barocken Idee von Affektenlehre überhaupt erst eine Lebensgrundlage verleiht, zum Affektenrausch – zu böse gesagt, gar zum Zirkus. Dieser ständigen Versuchung des noch schnelleren Tempos, des noch herberen Theorbenanschlags, konnte die meiste Zeit jedoch erfolgreich widerstanden werden. Dass Barockmusik nicht atemlose Anstiegssequenzen, immer schnellere Violinsoli und immer heftiger und bedrohlicher wirkende Continuo-Gruppen braucht, sondern vielmehr organische Atmung wurde freilich aber erst ab dem Punkt vollends klar, als Sonya Yoncheva zu „Ombra mai fu“, dem wohl bekanntesten „Händel-Schlager“ und erstem vokalen Programmpunkt, einsetzte.
„Nie war der Schatten eines Gewächses teurer, lieblicher und süßer“, so besingt König Xerxes am Anfang der italienisch gleichnamigen Oper „Serse“ eine Platane. Und ja an Lieblichkeit und Süßheit und Innigkeit und Einfühlsamkeit ist Yoncheva mit ihrem warmen Timbre, und ihrem – Gott sei Dank! – nie die Musik „überschmierendem“ Vibrato, wohl kaum zu übertreffen. Spätestens als sie mit „Se pietà di me non senti“ aus dem „Giulio Cesare“ das Leid und das Flehen um Erbarmen der – sonst durchaus intriganten – Kleopatra dem Publikum in einer so innigen Weise verkörpert, dass die Zeit immer wieder förmlich stillzustehen scheint, muss jedem klar sein, dass Händel, richtig interpretiert und musiziert, sich an emotionaler Tiefe nicht hinter Puccini und Wagner zu verstecken braucht.
Aber da, so lehrt uns der Cembalodeckel, Musik nicht nur Medizin der Schmerzen, sondern auch Gesellin der Fröhlichkeit ist, wurden auch jene, denen die Stimmung nach Händel’scher Freudenexplosionen und Frohmut stand, nicht enttäuscht. Arien wie „Tornami a vagheggiar“ der Morgana im 1. Akt der „Alcina“ versprühten jenen barocken Frohsinn, jene feierliche Entzückung, die sicherlich ein Hauptgrund für Händels so riesigen Erfolg zu Lebzeiten waren. Die große Spielfreude dabei war den neun Musikern auf der Bühne in jeder Sekunde anzumerken.
Abgerundet wurde das Programm mit den ersten beiden Sätzen des dritten Oboenkonzertes (HWV 287) von Händel. Der französische Oboist Neven Lesage überzeugte hierbei, neben seinem großen technischen Können, vor allem durch seine betörend interaktive Spielweise. Was Nikolaus Harnoncourt einst in seinem Buch „Der musikalische Dialog“ beschrieb, nämlich eine Interaktion mit den Mitspielern und dem Publikum, welcher, vor allem bei alter Musik, selbige zum Leben bringt, das zeigte Lesage auf das eindrücklichste. Sein so menschlicher Ton und seine durchdachte aber dennoch intuitiv wirkende Phrasierung zeigte, dass Barockmusik dann zur vollen Entfaltung kommt, wenn Affekte so natürlich anmuten, dass sie nicht mehr affektiert wirken. Die große Musikalität des Franzosen zeigte sich jedoch vor allem in seinem gemeinsamen Musizieren mit Sonya Yoncheva. In zwei Zugaben reizten die beiden die Grenzen gestischer und mimischer musikalischer Konversation aus.
Wenn also am Ende der Kopf des Oboisten bei der kokett verführerischen Annäherung durch Sonya Yoncheva noch tiefere Rottöne annimmt als, aus ganz physiologischen Gründen, in den schwierigsten Solopassagen des Oboenkonzertes, dann hat Händels Musik mit ihrer feierlich aufbrausenden, ja fast schon orgiastischen, Wirkung ihren Auftrag nicht verfehlt.
Willi Patzelt, 14. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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