Festspiel-Liederabend Bostridge/Pappano: Depressiver Wahnsinn – eine Winterreise ohne Selbstmitleid

Festspiel-Liederabend: Ian Bostridge  Prinzregententheater, München, 18. Juli 2022 

Foto: Ian Bostridge, © Ben Ealovega

Prinzregententheater, München, 18. Juli 2022

Festspiel-Liederabend: Ian Bostridge

Franz Schubert (1797–1828)
Winterreise op. 89 D 911 (Text: Wilhelm Müller)

von Willi Patzelt

Es gibt Werke, die lassen einen ratlos zurück. Freilich nicht in einer Ratlosigkeit, in der man sich fragen würde, warum man dieses Werk überhaupt hören solle. Diese Ratlosigkeit gibt es auch. Sie begegnet einem hin und wieder bei barocken Kleinmeistern oder bei manch moderner Musik. Aber es gibt auch Ratlosigkeit in Bezug auf Werke, die einen überwältigen, sodass man sich fragt: „Was war das gerade? Was habe ich hier erlebt?“. Man fragt das nicht aus Abschätzigkeit. Nicht im Geringsten. Denn diese Werke lassen einen tief bewegt, und doch umso ratloser, zurück. Wahrscheinlich lieben wir sie gerade deshalb so sehr.

Franz Schuberts Winterreise ist wohl für viele ein solches Werk. Und die am 18. Juli 2022 im Prinzregententheater aufgeführte Winterreise mit dem Tenor Ian Bostridge und dem sonst vor allem als Dirigent renommierten Antonio Pappano am Klavier, lässt manchen wohl sogar noch ratloser zurück als eine „gewöhnlichen“ Winterreise.

Die Winterreise zu hören, entführt immer wieder in Abgründe, die einem sonst im eigenen Leben hoffentlich erspart bleiben. Franz Schubert schrieb sie, bereits an Syphilis erkrankt und unter schwersten Depressionen leidend, im Jahr 1827, nachdem er auf beide Teile des gleichnamigen Gedichtzyklus von Wilhelm Müller aufmerksam wurde. Schuberts Freund Joseph von Spaun äußerte sich später über die Entstehung: „Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: ‚Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.‘“ Regelrecht verstört waren Schuberts Freunde, als sie dann im Rahmen einer privaten Aufführung – sie nannten diese „Schubertiaden“ – den neuen Zyklus zu hören bekamen. Sie waren wohl die Ersten, die jene Ratlosigkeit durchlebten, die seither sicherlich Millionen von Zuhören widerfuhr.

Die Zuhörer, – leider wieder zu wenige, das Haus war wieder nur zu knapp zwei Dritteln gefüllt – die ins „Prinze“ kamen, betraten das Haus wohl vielfach in der Erwartung sich in gut 70 Minuten in eine Spirale tiefster Depression, gepaart mit emotionalen Ausbruchsversuchen und einiger weniger retardierender Momente, hinabreißen zu lassen. Nun, wer in dieser Erwartung kam wurde womöglich enttäuscht.

Ian Bostridge ist ein charakterstarker Sänger. Er besticht vor allem durch eine intensive Verkörperung des wegen Standesunterschiedes verstoßenen Wanderers. Durch starke Gestik, fast schon durch Schauspiel, durchlebt er die Qualen des Wanderers auf der Bühne und stützt sich dabei immer wieder verzweifelt auf den Flügel, nicht ohne sich in den musikalisch aufbrausenden Momenten wieder davon förmlich wegzureißen und den musikalischen Ausbruchsversuchen und dem tiefen Leid des vereinsamt Verzweifelten und verzweifelt Vereinsamten drastischen Ausdruck zu verleihen. Eine langjährige Konzertbesucherin erzählte nach dem Konzertende leicht ironisch, aber umso anerkennender, sie habe die Winterreise gerade zum ersten Mal als Oper erlebt.

Bostridge dringt durch eine stark gestische, aber auch durch Betonung und Stimmfärbung erzeugte Ausdrucksweise in Musik und Text in neue Interpretationsebenen vor. So wird das Werk eben nicht zu jener Depressionsspirale, sondern zu einer Anklage. Wenn der Wanderer durch ein Irrlicht in tiefste Felsengründe gelockt wird, so trägt Bostridge dies nicht in einer, wie sonst durchaus üblich, resignierten, sich bemitleidenden Form vor, sondern nahezu als Vorwurf. Die Deutungsweise ist nicht vollständig neu. Immer wieder, zum Beispiel von Christian Gerhaher, wird die Winterreise als durchaus politisches Stück gesehen, als ein Auflehnen gegen Metternich und seine Zeit der gesellschaftlichen Einengung, gar Unterdrückung. „Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht“ – man fühlt sich fast verantwortlich gemacht für dieses Elend. Das bringt den Zuhörer – denn der wird so ständig angesprochen – in eine wohl noch tiefere Form des Erlebens. Ein sehr beeindruckender Zugang!

Man bekam also nicht einfach nur einen depressiven Wanderer zu sehen. Vielmehr einen, den die Depressionen so verrückt gemacht haben, dass er im Wahnsinn zu leben scheint. Phasenweise lässt die übertriebene Betonung der Hintergaumenlaute (ch), gepaart mit bewusst verstörender Mimik, Bilder von Klaus Kinski vor dem inneren Auge erscheinen. Auffällig ist, dass sich Bostridges Wanderer eigentlich schon zu Beginn im Wahnsinn zu befinden scheint. Die sonst typische Entwicklung eines Enttäuschten hin zum Verzweifelten bleibt aus. Auch das ist untypisch, jedoch sehr spannend. Es eröffnet nämlich eine Auseinandersetzung mit dem Umgang eines Wahnsinnigen mit seiner Welt. Ein Anklagen, das nicht gehört wird. Die wenigen „schönen“ Momente der Winterreise, also vor allem der „Frühlingstraum“, wirkt nicht träumend und erinnernd, sondern ironisierend und tendenziell verspottend.

Bostridges heller Tenor ermöglicht gesanglich ein breites Spektrum an Interpretationen. Seine Stärken liegen vor allem in der Mittellage, Bostridge beherrscht sie im zarten wie im dominant zwingenden Register auf das Allerbeste. Insgesamt ist die Stimmführung jedoch zuweilen sehr unausgeglichen. So wirkt manch hoher Kulminationspunkt etwas übermäßig donnernd und gepresst (um das wirklich viel zu böse Wort „bellend“ zu vermeiden). Die tiefen Stellen wirkten gelegentlich zu unbequem und zu gezwungen. Die große interpretatorische Ausdruckskraft Bostridges schmälert dies aber nur geringfügig.

In leisen Stellen geht Bostridge bis an die Grenze des hör- bzw. verstehbaren. Und manchmal auch darüber hinaus. Jedoch muss die teilweise fehlende Verständlichkeit des Gesangs auch in gewissen Maßen
Sir Antonio Pappano zugerechnet werden. Der Musikdirektor des Londoner Royal Opera House, sowie des Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, zeigte, dass er seine große Fähigkeit zur farbeinreichen Interpretation nicht nur mit einem Orchester, sondern auch am Klavier zu verwirklichen weiß. Die Schubert’sche Klavierbegleitung, die eigentlich keine Begleitung ist, sondern, so einst Joachim Kaiser, „die Seele des ganzen Stückes“, interpretiert Pappano jedoch vielleicht zu dominant und zu wenig dienend. Womöglich waren auch deshalb manche Piani ohne Textbuch nicht zu verstehen.

Sir Antonio Pappano © Musacchio & Ianniell

Bostridges und Pappanos Winterreise ist nichts für schwache Nerven. Sie fordert und strengt an. Und das macht sie zu einem umso spannenderen Erlebnis. Wer depressives Selbstmitleid zu hören bekommen wollte, der wurde womöglich enttäuscht. Mal wieder stand also wohl mancher ratlos da. Aber ratlos im besten Sinne. Denn wer nach dem Hören dieses Werks einen Aha-Effekt wie nach einer Aufführung Beethovens Fünfter verspürt, der ist seelisch nicht zu beneiden. Der Applaus war donnernd, die Zuhörer begeistert. Irgendwo wirken allerdings stehende Ovationen nach einer Winterreise etwas befremdlich. Gerechtfertigt waren sie aber allemal!

Willi Patzelt, 19. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Franz Schubert, Die Winterreise, Florian Boesch, Bariton, Theater an der Wien, 29. Januar 2022

DVD Rezension: Hans Zender, Schuberts Winterreise, Ballett Zürich, Christian Spuck klassik-begeistert.de

 

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