Foto: Karl-Amadeus-Hartmann © takt1.de
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Dass in Europa einmal wieder Krieg herrscht, hätte noch zu Beginn des Jahres wohl niemand für möglich gehalten. Nun – mehr als 5 Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine gehört dieser Umstand zu unser aller Alltag und wir müssen lernen, damit umzugehen. Manche tun dies durch aktive Auseinandersetzung, manche durch Verdrängung und Vergessen, manche durch Leugnen. Das erinnert an dunkle Zeiten, in denen Deutschland selbst Ausgangspunkt des bis dato größten Kriegs der Weltgeschichte gewesen ist. Da verwundert es, dass bei der (momentan sehr aktuellen) Rückbesinnung auf solch dunkle Zeiten inklusive Frage nach der eigenen weltpolitischen Verantwortung ein Name in der klassischen Musikkultur bisher gar nicht auftaucht: Karl Amadeus Hartmann.
Eigentlich hätte diese Reihe mit erbaulichen Titeln und Namen starten sollen. Denn in dieser Kolumne über vergessene Klassiker soll einmal ein Blick auf jene Künstler der Orchesterkompositionen geworfen werden, die (völlig zu Unrecht) vergessen worden sind und in unserem Kulturbetrieb keine oder eine viel zu geringe Rolle spielen. Dem aktuellen weltpolitischen Geschehen ist es nun aber zu verdanken, dass der Einstieg mit dem 1905 in München geborenen und 1963 dort auch verstorbenen Karl Amadeus Hartmann stattfinden muss. Denn wie kaum einen zweiten zeichnet diesen fast vergessenen Komponisten des 20. Jahrhundert sein politischer Aktivismus und sein offener Widerstand gegen das Naziregime aus.
Augenmerk dieses Beitrags sollen aber nicht etwa offen kritische Titel, wie sein 1933 komponiertes Orchesterwerk Miserae, seine als „Versuch eines Requiems“ bezeichnete erste Sinfonie oder sein Klagegesang von 1944/45 sein. Denn seine Musik zeichnet neben einer schillernden Instrumentation auch eine gewisse Unversöhnlichkeit mit dem Ohr aus. Unter dem Naziregime wurde er daher auch boykottiert. Erst nach Endes des Kriegs 1945 fand er nationale wie internationale Anerkennung und wurde mit zahlreichen Musikpreisen überhäuft.
Inhalt dieses Beitrags soll stattdessen seine dritte Sinfonie sein, die im Oeuvre dieses Komponisten einen Spagat zwischen Stilmitteln der Neuen Musik und Klanggestalt der Spätromantik aufweist. Unter seinen hinterlassenen Werken ist diese zweisätzige Sinfonie eines jener Werke, die sich am ehesten nachvollziehen lassen. Eine düstere Klangsprache, direkt zu Beginn des ersten Satzes „Largo ma non troppo“ weckt dabei Assoziationen an den späten Mahler und die Kriegssinfonien Schostakowitschs.
Fast kammermusikalisch steigt Hartmann in dieses 1948/49 für das Radio München geschriebene Werk nach dumpfen Schlägen des Tamtams über Harfe und Pauke in einen Solostreichersatz ein. Dessen Hauptthema lässt sich zwar schwer heraushören. Als markantes Element erscheint hier aber die herabfallende Quinte, die auch in jeder Stimme wiederzufinden ist. Die sich daraus über mehrere Minuten spannende Streichermelodie hat etwas Verlorenes, bewegt aber gerade auch deshalb. Denn was der Musik an Ohrwurmcharakter fehlt, macht sie durch ihre Eindringlichkeit wett. Was bleibt ist gefühlte Einsamkeit und ein Hauch von Zukunftsangst. Besonders diese ruhigen Stellen wissen dadurch zu ergreifen, denn in ihrem Farbenreichtum liegt das Potenzial, das Innerste zu berühren.
In einem überraschenden, fast schon erschreckenden kompositorischen Kniff folgt auf diese in Stille ausklingende Streicherserenade ein stark stampfender Einwurf von Schlagwerk und Orchester, der im Beginn einer Fuge mündet, die – ausgerechnet – von der Pauke eingeleitet wird. Auch ihr Thema ist nicht ohne weiteres eingängig, erschließt sich aber formell durch steten Zuwachs weiterer Instrumente zum Gesamtklang. Es übernehmen zunächst die Streicher, dann die Trompete, Oboe, Flöte und weitere Bläser, die das Fugenthema immer weiterspannen, bis es schließlich in einem harschen Sept-Nonen-Akkord über d-Moll mündet.
Hier hätte der Satz bereits enden können, doch es wäre nicht Hartmann, wenn er dieser durchkonstruierten Episode nicht noch eine weitere folgen ließe. Instrumental bildet diese durch Celesta, Harfe und das nachfolgende Spiel der Fagotte und weiterer Holzbläser einen deutlichen Kontrast. Es scheint, als würde Hartmann hier einen Blick auf das Individuum werfen, nachdem im Tumult der vorherigen Fuge fast der Untergang erreicht wurde. Aber auch hier droht das Fugenthema sich durch schrille Einwürfe der Flöten durchzusetzen, was nach sich immer furioser zuspitzenden Aufschreien des Orchesters schließlich zu einem abrupten Abschluss führt.
Der zweite Satz weckt starke Assoziationen an Strawinsky, besonders den Sacre du printemps, denn auch hier begegnen einem gestopfte Trompeten im Solo mit Einwürfen aus anderen Orchesterbereichen und sehr farbenprächtig instrumentierte Zwischenspiele. Diese Musik ragt mit ihren an Magie grenzenden Klangwelten heraus und weiß zu verzaubern. Auch der anschließende, an einen Trauermarsch erinnernde Abschnitt kann so eine fantastische Wirkung entfachen. Gerade auch, als er sich in geradezu bildlich malerische Szenen wandelt.
Bemerkenswert ist hier auch ein Höhepunkt zwischen schwelender Dramatik und sich ankündigender Erlösung – womöglich ein vorsichtig optimistischer Ausblick auf Friedenszeiten, die nach einem jeden Konflikt unweigerlich kommen werden? Diese werden zwar im Verlauf der Sinfonie nicht eingelöst – stattdessen wird wieder der Trauermarschklang vom Beginn des Satzes aufgegriffen. Dafür leitet diese Musik aber in ein Ende über, das so unerwartet wie verklärend kommt und mit einem fünffachen Piano bereits an der Schwelle des noch Hörbaren liegt. Das ist – trotz fehlender struktureller Elemente – schon ein Gänsehautmoment, der auch nachdrücklich Eindruck hinterlässt.
Der Umstand, dass bei Karl Amadeus Hartmann kein thematisch roter Faden existiert, dürfte sicherlich dafür verantwortlich sein, warum er heute weitestgehend unbeachtet ist. Es stimmt: Diese Musik fordert und gerade auch die Assoziationen, die sie an Krieg und Verderben wecken will, machen sie zu einer harten Kost. Trotzdem ist gerade auch seine dritte Sinfonie die Auseinandersetzung wert, denn auch ohne unmittelbar identifizierbare melodische Bezüge weist sie genug Erlebnisspielraum auf, um zu bewegen.
Wer diese Musik als szenische Abfolge anstelle einer ohrwurmbasierten Komposition verstehen kann, wird hier viel entdecken. Mich persönlich hat die Beschäftigung mit diesem fast vergessenen Talent jedenfalls bereichert und sollte es nur einem anderen Lesenden meiner Artikel genauso gehen, dann hat sich dies bereits gelohnt.
Daniel Janz, 31. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels vergessene Klassiker (c) erscheint 14-tägig bei klassik-begeistert
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.