Verdi’s Maskenball „Un ballo in maschera“, München:
herrlicher Abend, göttliche Harteros,
fulminante Optik in konsequentem Irrationalismus

Giuseppe Verdi, Un ballo in maschera, Bayerische Staatsoper, München, 1. März 2018

Fotos: Wilfried Hösl (c)
Giuseppe Verdi, Un ballo in maschera, Bayerische Staatsoper, München
1. März 2018

Musikalische Leitung, Asher Fisch
Inszenierung, Johannes Erath
Bühne, Heike Scheele
Kostüme, Gesine Völlm
Video, Lea Heutelbeck
Licht, Joachim Klein
Dramaturgie, Malte Krasting
Chor, Sören Eckhoff

Riccardo, Jean-François Borras
Renato, Simone Piazzola
Amelia, Anja Harteros
Ulrica, Okka von der Damerau
Oscar, Paula Iancic
Silvano, Boris Prýbl
Samuel, Anatoli Sivko
Tom, Alexander Milev
Oberster Richter, Ulrich Reß
Diener Amelias, Long Long

Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

von Tim Theo Tinn

Regisseur fragt eine Oper: „Darf ich dich benutzen Du Schöne, statt dir zu dienen?“ Sagt die Schöne: „Du darfst mich haben – aber tu mir nicht weh!“

Und verletzt hat Johannes Erath nichts, sondern einen spektakulären Bühnenraum genutzt, um  „einfache, willkürliche, zufallsgesteuerte Aktionen ins Bild zu setzen“ :  Dadaismus!!!. Er hat mit „absoluter Freiheit und einem konsequenten Irrationalismus seine inszenatorischen Vorstellungen proklamiert“. Das hat mit Ort, Zeit und Handlung der so unberührten Vorgabe nichts zu tun – ist aber äußerst unterhaltsam und befragend, ein Experiment.

Audienzsaal, Hütte, Galgenberg, Arbeitszimmer, Ballsaal werden zum opulenten Schlafzimmer mit zwei Betten – eins hängt sogar an der Decke, nach der Pause liegt darin ein toter Mensch, eine Leiche. Und diese Region des Schlummers ist mit Monumentaltreppe – ein aus Stufen gebildetes Auf und Ab: Symbolik – Symbolik. Sopran wähnt sich in diesem Gemach der Regeneration auf einem Galgenberg und stöhnt: „Gott ich erzittere, welch ein Ort“.  Matrose tritt ein und ruft: „Lasst mich durch“, obwohl niemand da ist, usw. Eine Wahrsagerin, Zigeunerin, Afrikanerin wird zur blonden, langmähnigen Wagnerheroine in Glitzerrobe. Den Maskenball gibt es ohne Masken, usw. Das Publikum wird mit vielen Anachronismen befragt, ist ratlos aber bestens unterhalten.

Intellektueller Nährwert? Warum??  Hirnforschung belegt, dass Eindrücke und Entscheidungen zu über 90% emotional gesteuert sind.  Im „limbischen System“ werden Emotionen und Triebverhalten verarbeitet. Menschen suchen gute Gefühle, Botschaften, die sie emotional ansprechen: emotionalen Nutzen!  Der wurde überreich geboten: neben Inszenierung und Bühnenbild führen im Gesamtkunstwerk Musiktheater die Kunstformen Dicht – u. Tonkunst, vorgetragen von Orchester und Sängerdarstellern, Personenregie, Ausstattung und Kostüm, Lichtinstallation, Maskenbildnerei etc., in vielfacher Ausprägung zu prallem auditiven und visuellem Erleben, in Gefühlswelten.

Die Handlung dieses Liebe-Freundschaft–Verheißung–Verschwörung -Mord–Gewürges kann im Internet gefunden werden.

Kostüme: es ist irritierend, dass Alltagsanzüge immer noch in zu vielen Inszenierungen nachgeäfft werden.  Es müsste eigentlich auffallen, dass diese Unsitte (genial entstanden 1976 im Bayreuther Jahrhundertring) mittlerweile nur noch Plagiat ist. Banal, trivial, ordinär führen Kostümbildner ihre differenzierte Kunst vor. Wer kann denn noch surreal assoziierte Kostüme schaffen, wie sie z. B. Ponnelle bis vor 30 Jahren in meisterlicher dramaturgischer Überhöhung nutzte, dem der Rezensent als Assistent auch reiche Erfahrungen verdankt. Bitten wir um die Reflektion im Phantasma theatraler Roben nach Jahrzenten der Kostüm– Tristesse. Es gab dann noch Fräcke, Zylinder, Bademäntel und ansprechendere Damenkostüme.

Orchester, musikalische Leitung Asher Fisch: das war guter Repertoire-Alltag, runtergepinselt, alles stimmte fast, manchmal wackelte etwas – insgesamt konnte aber durchaus einem wundervollen Verdi entsprochen werden – keine überlegene Differenzierung aber orchesterdramaturgisch gutes Niveau, stellenweise zu laut.

Die Sänger entsprachen dem erwarteten Staatsopern-Niveau:

Riccardo – Tenore Spinto – Jean-François Borras: anfangs überzeugte eine sehr schöne Mittellage, leider nach oben etwas gestemmt. Die Stimme war unruhig – aber dann: Weltklasse, eine perlende Entwicklung, schäumend in allen Lagen und wenn es noch so exponiert war: unangestrengte emphatisch, dynamische Bestform.  Danke für diesen Tenor. Dezibel: ideal, Dynamik: einwandfrei, Feinzeichnung: so soll es sein.

Renato – Bariton – Simone Piazzola: diese Stimme ist für die Staatsoper zu klein, schraubt sich in die Höhe, forciert gaumig. Schade! Insgesamt gute Erscheinung, wirkte in dieser Hauptpartie etwas verloren. Dezibel: zu wenig, Dynamik: bemüht, Feinzeichnung: ausbaubar.

Amelia – Sopran – Anja Harteros:  … und es eröffnete sich ein Kosmos, eine unvergleichliche eigene Liga, führte in erträumte Sopranwelten. Was da in allen Lagen geschieht ist unbeschreibbares Wunderweben.  Unten satte Fundamentierung, völlig dynamischer Aufbau und dann ein Aufschwingen in verzehrende Töne. Egal wie exponiert: die Stimme schwebt im perlenden Universum. Dezibel: ideal, Dynamik: göttlich, Feinzeichnung: zum Niederknien.

Okka von der Damerau (Ulrica)

Ulrica – Mezzosopran – Okka von der Damerau:  eine Perle im Ensemble der Staatsoper, berückend, vielgelobt – auch hier. Etwas an diesem Abend wirkte aber nicht ganz rund. Dezibel: ideal Dynamik: fast ideal Feinzeichnung: etwas unruhig.

Oscar – Sopran – Paula Iancic: quirlig zarte Optik mit wunderbar ausgeformter großer Stimme, stößt die Spitzentöne etwas an, trainiert wohl mehr auf Volumen statt Feinzeichnung. Sehr schönes Partien-Portrait.  Dezibel: etwas zu forsch, Dynamik:  gut, Feinzeichnung: Luft nach oben.

Silvano – Bariton – Boris Prýgl : gefällt sehr, da scheint alles für die Karriere zu stimmen. Aufgrund der kleinen Partie gibt es keinen tieferen Eindruck.  Dezibel: gut, Dynamik: gut, Feinzeichnung: gut.

Samuel und  Tom – Bässe – Anatoli Sivko,  Alexander Milev:  auch diese kleine Partien sind hervorragend besetzt. Es ist eine große Freude die Zwei im burschikosen Agieren zu erleben. Beide Stimmen sind hervorragend ausgeformt – einfach tolle Kerle, die für größere Aufgaben prädestiniert sind. Dezibel: gut, Dynamik: gut, Feinzeichnung: gut.

Oberster Richter – Tenor – Ulrich Ress: es ist immer eine Freude den Kammersänger der Staatsoper in seinen Kabinettstückchen zu erleben. Über Jahrzehnte ist er dem Ensemble trotz weltweiter Karriere und Ausnahme-Stimme treu geblieben. Einer der ganz wenigen Tenöre, der Glanz und Schönheit seines besonderen Timbres unbelastet erhält. Dezibel: optimal, Dynamik: ideal, Feinzeichnung: lehrbuchmäßig.

Der Chor der Bayrischen Staatsoper kann auch hier trotz vieler Einsätze mit Bravour überzeugen.

Vorstellungsende: der Applaus glich einem Erdbeben, es wurde getrampelt und gejubelt.  Alle gingen beseelt, emotional berührt und auch kulinarisch beglückt.

Tim Theo Tinn, 3. März 2018
für klassik-begeistert.de

Fotos: Wilfried Hösl

 

 

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