Copyright: Symphonischer Chor Hamburg und Flensburger Bach-Chor am
18. November 2022 in der Laeiszhalle, Hamburg, © Simon Redel
In der Laeiszhalle wird eine ganz außergewöhnlich beginnende Messe in 70 Minuten zu einem Meisterwerk der höchsten Tonkunst. Solch ergreifender Gesang spielt die tiefsten aller Emotionen an, versetzt ein jedes Herz in Tränen.
Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis
Symphonischer Chor Hamburg
Flensburger Bach-Chor
Sønderjyllands Symfoniorkester
Matthias Janz, Dirigent
Hanna Zumsande Sopran
Lena Belkina Mezzosopran
Ilker Arcayürek Tenor
Martin Summer Bass
Laeiszhalle Hamburg, 18. November 2022
von Johannes Karl Fischer
Alle Ohren sind spitz auf eine Stimme, wenn Lena Belkinas Gesang den Saal beherrscht. Agnus Dei, das unschuldige Lamm Gottes, das seine Schlachtung erblickt, fleht um Hilfe. Wie die Millionen von Kriegsflüchtlingen, die in diesen Augenblicken hilflos hungernd um die halbe Welt ziehen.
Der ergreifende Gesang der Ukrainerin spielt die tiefsten aller Emotionen wider, versetzt ein jedes Herz in Tränen. Warum singen, warum Musik machen? Weil kein Text, kein Bild dieser Erde die Seele so bewegt wie die herzzerreißenden Klänge dieser Mezzosopranistin.
Die Missa Solemnis ist ein symphonisches Mammutwerk, ihre Monumentalität erinnert mehr an eine Mahler-Sinfonie als an eine frühromantische Messe. Ganz klassisch noch die ersten Töne, im Kyrie eleison klingt die Laeiszhalle wie der Michel. Die wunderbare Akustik dieses Saals spielt den großartig auftretenden Chören – den Symphonischen Chor Hamburg und den Flensburger Bach-Chor an diesem Abend – geradewegs in die Hände. Spätestens im Benedictus, das man genauso gut als besungenen Violinkonzertsatz verkaufen könnte, offenbart sich die Einzigartigkeit dieses Werkes.
Solch wundervolle Darbietungen dieses meisterhaften Vokalwerks bringen es mal wieder auf den Punkt: Beethoven brauchte keine Opern, schon gar nicht, wenn vier bärenstarke SolistInnen diese Gesangspartien so meisterhaft dem Publikum servieren wie ein fein gekochtes Abendmahl. Das war mehr als eine außergewöhnliche Freitagsmesse, das war eine hochdramatische Parade-Vorstellung der reifsten aller Beethoven’schen Künste! Auf dem Weg von der Zauberflöte zu Wagner kommt niemand an dieser feierlichen Messe vorbei.
Sei es Hanna Zumsande, spontan in die Sopran-Partie geschlüpft, deren himmlischer Gesang auf das Publikum ausstrahlt wie die Sonne. Die Höhe scheint sie nicht zu fürchten, je weiter ihre Melodien zu den Engeln hinaufstiegen, desto souveräner füllt ihre kraftvolle Stimme den Saal. Oder Ilker Arcayürek, dessen heller Tenor mühelos durch die Lüfte seiner Koloraturen segelt. Martin Summer glänzte vor allem in der letzten Nummer mit einem makellosem Bass-Solo.
Maßstäbe setzte Beethoven nicht nur in Punkto Gesang, sondern auch Orchester. Die Besetzung – samt vier Hörnern und Kontrafagott – war seinerzeit eine fast unlösbare Herausforderung. Das Sønderjyllands Symfoniorkester unter der souveränen Leitung von Matthias Janz bringt den vollen Reichtum an Klangfacetten zum Vorschein, tönende Trompetenfanfaren stehen neben lyrisch-kantablen Klarinetten und grandios umschlingenden Streichern.
In der Laeiszhalle wird eine ganz außergewöhnlich beginnende Messe in 70 Minuten in ein Meisterwerk der höchsten Tonkunst verwandelt, wie eine Vorankündigung der kurze Zeit später geschriebenen Jahrhundertsinfonie mit dem Schiller-Schlusschor. Die letzten Worte dieser monumentalen Messe lauten „Dona nobis pacem“, ein heiliges Gebot von bedrohlicher Aktualität in diesen stürmischen Zeiten.
Gib uns Frieden, die Masse der Menschheit hat es nicht anders verdient!
Johannes Karl Fischer, 19. November 2022 für
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