Der Weg gehüllt in Schnee: Bostridge und Pappano begeistern mit Zenders "Winterreise" in Brüssel

La Monnaie Kammerorchester, Sir Antonio Pappano, Dirigent, Ian Bostridge, Tenor,  La Monnaie, Brüssel, 19. Dezember 2022    

Foto: © Opera Today, Bostridge und Pappano

Hans Zenders Reinterpretation von Schuberts gewaltigem Winterreise-Zyklus ist tiefe Verbeugung und kreative Bearbeitung zugleich. Für ein subtiles Kammerorchester geschrieben, wirft die „komponierte Interpretation“ zahlreiche Schlaglichter auf bisher Verborgenes und Ungesagtes. Antonio Pappano and Ian Bostridge boten in dem Brüsseler Opernhaus eine mitreißende Aufführung und wurden so zu kongenialen Mitautoren.

La Monnaie Kammerorchester         
Sir Antonio Pappano, Dirigent
Ian Bostridge, Tenor

La Monnaie, Brüssel, 19. Dezember 2022

von Lukas Baake

Hans Zender, Schuberts Winterreise – eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester          

Die Winterreise, Schuberts übergroßer und unendlich-tiefer Liederzyklus, ist unumstritten der hohe Gipfel des breitgefächerten Liedrepertoires. Unzählige Aufnahmen und regelmäßige Aufführungen sind lebhaftes Zeugnis der ungebrochenen Faszination, die von Schuberts opus magnum ausgeht. Dazu tragen auch die mannigfaltigen Bedeutungsschichten des Werkes bei, das um die existentielle Geworfenheit in die Welt kreist und zahlreiche Adaptionen und Neubearbeitungen erfahren hat.

Den Besuchern des prächtigen Opernhauses am Brüsseler Place de la Monnaie wurde mit Hans Zenders Bearbeitung des Zyklus für Kammerorchester und Tenor eine der kreativsten und weitblickendsten Reflexionen über Schuberts Vertonung  von Wilhelm Müllers Gedichten geboten. „Komponierte Interpretation“ – so taufte Zender seine 1993 entstandene Komposition, die auf Schuberts Werk aufbaut, jedoch weit über ein bloßes Arrangement hinausgeht.

Im Laufe seins Lebens entwickelte Zender eine eigene Theorie der musikalischen Interpretation, die den Interpreten mit eigener Erfahrung, Intelligenz und Temperament als aktiven Mitautor im musikalischen Prozess versteht. An diesen Gedanken anknüpfend, verstand Zender seine Bearbeitung der Winterreise als „kreative Transformation“. Um die in dem Werk angelegte revolutionäre Wucht und die von diesem ausgehenden Linien zur Spätromantik freizulegen, erschuf Zender eine neue Klangwelt in Schuberts Geiste. So wurden etwa die Parameter Tempo und Tonart manipuliert, Charakteristika der einzelnen Lieder isoliert oder durch neukomponierte Vor-, Nach- und Zwischenspiele ergänzt. Hans Zenders Reinterpretation von Schuberts gewaltigem Winterreise-Zyklus wird somit zu einer Vivisektion, die tiefe Verbeugung und kreative Bearbeitung zugleich ist.

Im Sinne Zenders hätte man sich keine besseren Mitautoren an diesem Abend wünschen können als Ian Bostridge und Antonio Pappano. Die beiden Briten verbindet eine langanhaltende und ertragreiche musikalische Freundschaft, die sich bereits in mehreren mustergültigen Einspielungen niedergeschlagen hat. Pappano ist ein versierter Alleskönner am Dirigentenpult, dessen breites Repertoire, präzise Technik und wegweisenden Interpretation ihn unlängst zu einer unangefochtenen Größe gemacht haben. Über den strahlend-samtenen Tenor von Bostridge muss nicht viel gesagt werden. Der Brite ist seit mehr als zwei Jahrzehnten einer der intelligentesten und interessanten Liederinterpreten.

Foto: © La Monnaie, Ian Bostridge

Die beiden Musiker gemeinsam mit dem hellwachen und spielfreudigen La Monnaie Kammerorchester erleben zu dürfen war ein purer Genuss. Pappano fungierte dabei als Ruhepol und Kraftzentrum zugleich, der die Musiker gekonnt durch die Zanders Winterreise leitete, das Wechselspiel von Be- und Entschleunigung beherrschte und es verstand, Bostridge in einen innigen Dialog mit den Musikern zu bringen. Der britische Tenor war gut aufgelegt und hatte sichtlich Freude an den perkussiven Repetitionen, den aufbäumenden Sforzandi und den immer wiederkehrenden Brüchen und Spannungen.

Die Musiker erhielten zurecht einen langanhaltenden und begeisterten Schlussapplaus, in den sich einige irrlichtende, ungerechtfertigte Buhrufe mischten. Zum Ende des Jahres wurde das Konzertpublikum in der belgischen Hauptstadt mit zwei Ausnahmekünstlern beschenkt, die Hans Zenders Réécriture der Winterreise die Bühne gegeben haben, die sie verdient.

Lukas Baake, 23. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom, Antonio Pappano Dirigent Philharmonie Berlin, 5. September 2022

Festspiel-Liederabend: Ian Bostridge Prinzregententheater, München, 18. Juli 2022 

DVD Rezension: Hans Zender, Schuberts Winterreise, Ballett Zürich, Christian Spuck klassik-begeistert.de

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