Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
„Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau so etwas geschrieben hat.“ – „Nein, und mehr noch: Sie werden es auch in einer Woche noch nicht glauben“. Das ist einer jener vielen, heute fast unerträglichen Dialoge, die im Bereich Klassischer Orchestermusik über Frauen zu finden sind. Episoden wie diese zwischen Dirigent Hermann Levi und Komponistin Dame Ethel Smyth verdeutlichen, unter welchen Repressalien selbst die größten Künstlerinnen leiden mussten, egal ob ihre Musik den „großen Meistern“ ebenbürtig war oder sogar überlegen ist. Bis heute wiederholen wir diese Klischees. Und das, obwohl wir uns vormachen, längst weiter zu sein. Trotzdem werden immer noch nur die „großen Meister“ rauf und runter gedudelt – während Werke von Frauen nahezu vergessen sind. Warum werden Komponistinnen aber immer noch so gut wie nie aufgeführt? Eine Frage, die einmal am Beispiel der „Serenade in D“ von Dame Ethel Smyth betrachtet werden soll.
Dame Ethel Smyth – Komponistin, Dirigentin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin – darf zweifellos zu den größten Komponisten ihres Landes, wenn nicht sogar ihrer Zeit gezählt werden. Die 1858 in Sidcup (Kent, England) geborene und 1944 in Woking verstorbene Engländerin gilt bis heute als eine der einflussreichsten Komponistinnen ihrer Zeit. Und gleichzeitig auch als eine der Personen, an denen sich gut illustrieren lässt, wie irrelevant das Geschlecht im Bezug zur Qualität einer Komposition ist. Denn obwohl sie heute Rang und Namen hat, bestehen aus ihrer Lebzeit kaum ernsthaft inhaltliche Auseinandersetzungen mit ihrer Musik.
Im Gegenteil, ihre schärfsten Kritiker stellten fast immer ihre Weiblichkeit ins Zentrum, oder verwiesen darauf, wie anstößig ihre Musik wäre, weil ihr der „feminine Charme“ fehle. Ein Umstand, der den ihr wohlgesonnenen Kritiker George Bernard Shaw veranlasste, sie mit Händel gleichzusetzen und spöttisch festzustellen, wie viel „männlicher“ (im hochwertigen Sinne) ihre Musik doch im Vergleich zu den eher „femininen“ Arbeiten von Mendelssohn-Bartholdy oder Arthur Sullivan wäre.
Solche Urteile hielten dennoch etablierte Komponisten wie beispielsweise Johannes Brahms nicht davon ab, ihr als Frau jegliche Musikalität abzusprechen, oder sie sogar zu beleidigen, als sie ihm einmal eine Komposition von sich vorstellte – und das, obwohl er selbst das ein oder andere schwache Werk fernab eines großen Wurfs hinterließ. Noch Jahre später sollte Ethel Smyth sich an dieses traumatische Erlebnis erinnern.
Dabei darf man Ethels Smyths erstes Orchesterwerk – die Serenade in D – durchaus als den Sinfonien Brahms ebenbürtig bezeichnen – ich persönlich finde sie Brahms erster Sinfonie sogar überlegen. Auch die Uraufführung dieses Stücks ist wohl ein großer Erfolg gewesen – allen Sexisten unter den Kritikern zum Trotz. Und das, obwohl dieses Werk eine eher ungewöhnliche Form aufweist: Nur die beiden Ecksätze sind für volles Orchester konzipiert. Die zwei Mittelsätze erscheinen stattdessen sparsam instrumentiert, stellenweise sogar kammermusikalisch. Wie sich zeigt, ist dies aber kein Nachteil, sondern macht einen für sich ganz eigenen Reiz aus…
Der erste Satz hat zwar einen ernsthaften Anklang, versprüht aber dennoch eine gewisse Unbeschwertheit. Recht klassisch geht es hier in der Exposition erst einmal quer die Stimmungen, die auch später das Werk bestimmen sollen, wobei das zentrale Motiv in den Bässen als roter Faden fungiert. Das Thema darüber hat stattdessen etwas Hochromantisches. Mal klingt Brahms durch, dann fühlt man sich wieder an Bruckner erinnert, dann gießt die Musik sich in einen ganz eigenen Tonfluss. Schön auch immer wieder, wie die Soli der Flöte oder die filigranen Begleitfiguren des Horns durchbrechen. Oder wie sich dieser Satz zur Mitte über das Seitenthema zu einem dramatischen Ausbruch auftürmt, um am Ende dann regelrecht friedfertig zu verklingen. Das hat Hand und Fuß!
Gerade im Kontrast dazu kann auch der zweite Satz verzücken. Hier geht es trotz der stellenweise kammermusikalischen Instrumentation munter zur Sache. Dessen Hauptthema tanzt lustig sowohl durch die Streicher als auch die immer wieder in Kleingruppen spielenden Bläser. Bemerkenswert auch, mit welchem Fokus Ethel Smyth es hier in der Durchführung variiert. Es finden sich stets neue Blickwinkel auf dieses Satzthema. Und doch behält man das Gefühl bei, es mit Bekanntem zu tun zu haben – eine Orientierung ist jederzeit möglich. Das haben Mozart, Beethoven oder der Chauvinist Brahms auch nicht besser gemacht!
Und das Tänzerische Moment findet man auch im dritten Satz wieder. Hier sind es vor allem die Holzbläser, die solistisch glänzen dürfen, während ihnen die Streicher eine rhythmische Untermalung spendieren. Auch wenn es in diesem „Allegretto grazioso“ etwas gemächlicher zugeht, als in dem vorangegangenen Scherzo, verliert diese Musik doch nie ihren Sog. Spannend vor allem, dass der Satz dadurch unerwartet abrupt endet.
Dafür entschädigt das Finale aber vollends. Als erneut symphonischer Abschnitt startet er nicht nur in die Vollen. Er bietet durch gekonnte dramaturgische Wechsel zwischen sattem Klang und sensiblen Soloeinwürfen auch eine prächtige Steigerung. Genial dabei der Einsatz, den sie den Blechbläsern zugesteht. Zur Hälfe des Satzes donnern sie in ein Fanfarenthema los, das seine besondere Signalwirkung auch aus dem Kontrast zu den beiden vorangegangenen Sätzen entfaltet. Dass danach alles auf ein Finale mit Pauken und Trompeten in bester Höhepunkt-Manier zusteuert, ist dann keine große Überraschung mehr, aber eine umso größere Genugtuung.
Die Qualität dieses Werks kann jedenfalls überzeugen. Hier ist nichts von angeblich weiblicher Fragilität, mangelndem Gespür oder fehlendem Ernst zu spüren. Ethel Smyths Musik selbst zeigt, dass es völlig egal ist, ob eine komponierende Person Mann, Frau oder anderen Geschlechts ist. Und diesem krassen Gegensatz zwischen eigenen Fähigkeiten und öffentlicher Akzeptant war sie sich auch mehr als bewusst. Nicht umsonst wurde sie als Suffragette zu einer der Vorreiterinnen für Frauenrechte in der Gesellschaft.
Es ist traurig, dass sie Zeit ihres Lebens nie die Anerkennung erhalten hat, die sie verdient hätte. Man stelle sich nur vor, sie wäre ein Mann gewesen – würden wir ihre Werke heute auch so rauf und runter hören, wie Brahms, Beethoven und Mozart? Klar – im Vergleich zu anderen Frauen war sie neben ihrer Musik auch durch ihre Bücher relativ erfolgreich und bekannt. Aber selbst das bedeutete noch Benachteiligung, Sexismus und Diskriminierung. Ein Umstand, unter dem sie wohl sehr gelitten hat. So schreibt sie in einem ihrer Briefe dazu: „Der genaue Wert meiner Musik wird (…) erst dann erkannt werden, wenn nichts von mir übriggeblieben ist als geschlechtslose Punkte und Striche auf liniertem Papier“.
Vor dieser Perspektive ist es eigentlich ein Armutszeugnis, dass wir selbst heute immer noch dieselben alten Klischees und Rollenbilder durch die Werkauswahl in unseren Konzerthäusern unterstützen, wenn nicht sogar manifestieren. Dame Ethel Smyth hätte es jedenfalls (genauso, wie die bereits in dieser Kolumne behandelten Fanny Hensel, Lili Boulanger und noch viele andere) verdient, häufiger gespielt und damit auch gehört zu werden. Wäre es also nicht langsam mal an der Zeit, mit solchen Traditionen zu brechen, die letztendlich doch den Chauvinismus reproduzieren? Ich würde es wagen. Regelmäßig!
Daniel Janz, 26. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Ethel Smyth, The Wreckers (Oper) Konzertante Aufführung Philharmonie Berlin, 25. September 2022
Sommereggers Klassikwelt 134: Die bemerkenswerte Dame Ethel Smyth, klassik-begeistert.de
Daniels vergessene Klassiker Nr 5: Fanny Hensel klassik-begeistert.de
Daniels vergessene Klassiker Nr 10: Lili Boulanger – D’un soir triste