Semper dolens – Musik & Schock

Festival „Music and Healing“, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Robin Ticciati, Dirigent   Berliner Philharmonie, 17. März 2023

Foto: DSO Berlin und Robin Ticciati © Peter Adamik

Stehende Ovationen und ein nicht enden wollender Applaus sind die Reaktionen: So etwas hat die Welt noch nicht gehört. Und solch liebevoll und klug durdachte Programme hört die Welt auch leider viel zu selten. Robin Ticciati und das DSO haben viel versprochen und noch viel mehr als das präsentiert. Dies war nur ein Konzert von vieren im Rahmen des Festivals Music and Healing – alle, denen sich die Chance bietet Teil davon zu sein, sollten sie dringend ergreifen.

Festival „Music and Healing“ I
vom 17. bis 26. März 2023

Harrison Birtwistle: Panic für Altsaxophon, Jazzschlagzeug und Orchester (1995)

John Dowland: Semper Dowland, semper dolens, Fassung für Streichorchester

Ernest Bloch: Schelomo. Hebräische Rhapsodie für Violoncello und Orchester

Igor Strawinsky: Le sacre du printemps

Nicolas Altstaedt, Violoncello
Asya Fateyva, Altsaxophon
Martin Frink, Jazzschlagzeug
Gareth Lubbe, Obertongesang

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Robin Ticciati, Dirigent

Philharmonie Berlin, 17. März 2023 

von Elisabeth Tänzler

Music and Healing – so heißt das von Chefdirigent Robin Ticciati initiierte Festival des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Vier Konzerte, Symposien, Interviews und Kolumnen behandeln das Thema Healing, denn schon Henry Purcell vertonte in einer seiner Arien: „Möge die Musik für einen Moment deine Sorgen vertreiben.“ Das Auftaktkonzert am 17. März in der Berliner Philharmonie konfrontiert dabei mit Grenzerfahrung: als „Schocktherapie“ oder „Bad in einer akustischen Eistonne“ wird das Kommende benannt – sie mögen recht behalten.

Um 20:00 Uhr dann betritt Robin Ticciati die Bühne – allein. Eine Ansage verheißt im Normalfall nichts Gutes, doch ist dies wohl nur der kleine Auftaktschock, der sich sofort in Luft auflöst. Ticciati eröffnet das Festival mit seiner persönlichen Begrüßung und bereitet das Publikum vor auf die folgende Erschütterung, die expressiven Klänge. Denn Panic von Harrison Birtwistle bedarf einer kurzen Vorbereitung. Kraftvolle Free-Jazz-Klänge der Saxophonistin Asya Fateyva treffen auf perkussive Vielfalt mit Martin Frink am Jazzschlagzeug. Das DSO kumuliert mit den beiden Soloinstrumenten zum geplanten Chaos. Robin Ticciati führt mit klaren Bewegungen durch das Werk, welches maßlos überfordern würde, hätte er sein Publikum nicht bereits über die Komplexität informiert. Doch alles Laute und Schrille schreckt nicht ab – es katapultiert die Zuhörenden wohl eher in das Hier und Jetzt. Alltag ist draußen, doch hier drinnen gibt es gerade nur Musik und Ohren.

Die Erschrockenheit hat ein Ende und wird nahezu ohne Unterbrechung weitergeführt in die so schmerzvolle Streicherfassung von „Semper Dowland, semper dolens“. Die Grenzerfahrung hier ist wohl die klingende Sehnsucht nach dem Tod, wenn auch ein friedlicher. Die kleine Streicherbesetzung hüllt in ihren runden Klang und wendet die eben erfahrene Panik ab. Musik kann so einfach sein, so einfach und tiefgreifend zugleich.

Alle Angst, jeder Zweifel und die Begegnung mit dem Tod führen das Programm durch Schelomo von Ernest Bloch nun zum eigenen Bekenntnis und zur Auseinandersetzung mit dem alten Testament. Das Solo-Violoncello verkörpert die Stimme Salomos, die Nicolas Altstaedt mit Inbrunst verwirklicht. Authentisch wirkt sein Spiel – nicht aufgesetzt in seiner solierenden Rolle. Spätromantische Einflüsse treffen hier auf nahöstliche Klangfarbenpalette – die Ballung von beidem zieht das Publikum in den Bann.

Viel versprochen hatte das Deutsche Symphonie-Orchester unter Robin Ticciatis Leitung in der ersten Hälfte – so viel, dass die Erwartung zum nun folgenden Le sacre du printemps ins Unermessliche stieg. Die Konzertpause überbrückte den Sprung von Schelomos sehnsuchtsvoller Religiosität hin zu Strawinskys Kult- und Opferritual, zu dem sich ein junges Mädchen zu Tode tanzt, um den Gott des Frühlings gnädig walten zu lassen. Das Solo-Fagott begann mit überbordendem Feingefühl, die Ausdrucksstärke und Exaktheit des Fagottisten wird gleichwohl zum Gesamteindruck der folgenden 40 Minuten. Das DSO musiziert mit Rauheit, aber auch zerbrechlich, zerstörerisch und beruhigend und elektrisiert damit die Berliner Philharmonie. Dann, nach Abschluss des ersten Teils Die Anbetung der Erde, betritt Gareth Lubbe den Saal im Zuschauerraum und beginnt seinen Obertongesang hinein in das Verklingen des Schlussakkordes. So mancher Atem stockt in diesem Moment, Augen weiten sich, die Münder stehen offen. Lubbe kreiert eine so mystische Atmosphäre mitten hinein in diesen riesig orchestrierten Strawinsky und schreitet dabei langsam durch die Ränge, hin zur Bühne. Dieser ursprüngliche Klang wird sogleich von einem leisen Streicherklang unterbettet, auf dem sich die Solo-Flöte und Gareth Lubbe mit improvisiert wirkenden Melodien in Dialog treten – es ist einzigartig. Das DSO übernimmt die Sphäre und führt sogleich mit Teil 2 Das Opfer fort. Man lebt diese musikalische Erzählung mit, Erschrockenheit, Angst oder zu Tränen gerührt – Robin Ticciati geht mit dem DSO einen Schritt weiter und hebt klangliche Grenzen auf. Zu Ende dann, überrascht Gareth Lubbe erneut: In die wiederholten Schlussakkorde setzt er seine Stimmenvielfalt und verlässt langsamen Schrittes den Konzertsaal. Das letzte hörbare ist seine in Obertönen gesungene Reminiszenz an die erste Fagottmelodie.

Stehende Ovationen und ein nicht enden wollender Applaus sind die Reaktionen: So etwas hat die Welt noch nicht gehört. Und solch liebevoll und klug durdachte Programme hört die Welt auch leider viel zu selten. Robin Ticciati und das DSO haben viel versprochen und noch viel mehr als das präsentiert. Dies war nur ein Konzert von vieren im Rahmen des Festivals Music and Healing – alle, denen sich die Chance bietet Teil davon zu sein, sollten sie dringend ergreifen.

Elisabeth Tänzler, 18. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Robin Ticciati, Leif Ove Andsnes, Klavier, Kölner Philharmonie, 7. Februar 2022

Georg Friedrich Händel: „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ Philharmonie Berlin, 9. März 2023

Kirill Petrenko dirigiert Beethoven, Brahms und Schönberg Philharmonie Berlin, 25. Januar 2023

Ein Gedanke zu „Festival „Music and Healing“, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Robin Ticciati, Dirigent
Berliner Philharmonie, 17. März 2023“

  1. Dieses Konzert des DSO Deutschen Symphonie- Orchesters Berlin, gestaltet und geleitet von Robin Ticciati, hat dem Musikleben unserer Zeit einen bedeutenden Impuls gegeben.
    Der Beginn mit Harrison Birtwistle’s „Panic für Altsaxophon“, gespielt von Asya Fatayeva und Martin Frink am Jazzschlagzeug , war eine akustische Vorschau in ein Leben voller Schmerzen und Qualen in einer nahezu unerträglichen Zukunft, die wir und unsere Kinder hoffentlich so nicht erleben müssen. Wer hören kann, begreift auch, dass diese unbeschreiblich grausamen Töne schon jetzt und heute von nicht so weit her zu uns in den Konzertsaal gelangen.
    „Semper Dowland, semper dolens“ gab, versunken in tiefer Trauer dann zumindest die Chance, die Schmerzen zu überwinden. Ernest Bloch ließ danach in der häbräischen Rhapsodie den „waisen Salomon“ durch das Cello sprechen, gespielt von Nicolas Altstaedt und mahnte die Menschen, die Gebote Gottes zu beachten und die Erde zu behüten. All diese tiefe Dramatik angesichts des grausamen Krieges in der Ukraine schnürte mir nahezu die Luft ab. In der Pause übten die Bässe auf der Bühne die schwierigsten Phrasen von Stravinsky’s Frühlingsopfer und da bekam man einen Vorgeschmack, welche künstlerischen Anforderungen an das Orchester durch das anspruchvolle Orchesterwerk gestellt sind. Im ersten Teil wurde man schonungslos mit den Bedingungen des Lebens von Menschen konfrontiert, die um ihr tägliches Brot kämpfen müssen. Aus den letzten Tönen des Gebetes an die Erde übergeleitet erklang von den oberen Rängen, mitten aus dem Zuhörerraum ein archaischer Obertongesang von Gareth Lubbe, der von Streichinstrumenten und im Dialog von der Flöte reflektiert wurde. Es war wie der Wunsch nach Befreiung und Frieden, der symbolisch in den Konzertraum bis zum Orchester getragen wurde. Der zweite Abschnitt brachte ein Feuerwerk an geballter Willenskraft und unsäglicher Härte in einem kaum nachzuvollziehenden Tempo des Widerstreites der Gefühle. Der Kampf um das Verständnis der Sinnhaftigkeit des gebrachten Opfertodes überlagerte die Aussicht auf die neue Kraft des Frühlings. Und hier hatte Igor Stravinsky mit seinem Werk abgeschlossen. Aber der geniale Robin Ticciati hat in nahtlosem Übergang den Obertongesang angefügt und Gareth Lubbe hat es vermocht, ein Bild der Gewinnung von Kraft zur Versöhnung zu zeichnen. Nach dem selbstzerstörenden Tanz in den Tod des Frühlingsopfers zeigte der so ursprüngliche Gesang im Dialog mit den ausgewählten Instrumenten das Gefühl der Unendlichkeit des Lebens auf… Leben ist die treibende Kraft des unendlichen Universums. Ich erinnerte mich an den befreienden Ausruf von Denis Goldberg nach dem Urteilsspruch im Rivonia Prozess, in dem Nelson Mandela und seine Mitstreiter für Menschenrechte in Südafrika zu mehrfach lebenslänglich Gefängnishaft verurteilt wurden: „Leben ist wunderbar!“
    Während des Beifalls erklang in mir das vor 110 Jahren von Herrmann Claudius geschriebene Volks- und Kampflied :
    „Birkengrün und Saatengrün
    Wie mit bittender Gebärde
    hält die alte Mutter Erde
    daß der Mensch ihr eigen werde
    ihm die vollen Hände hin,
    ihm die vollen Hände hin.“

    Konrad Hochhold

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