Foto: Herbert Blomstedt © Matthias Creutziger
Igor Strawinsky: „Psalmensymphonie“
Bruckner: Symphonie Nr. 6 A-Dur
Sächsische Staatskapelle Dresden
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Herbert Blomstedt, Dirigent
Dresden, Semperoper, 2. April 2023
Der 95-Jährige dirigierte das 8. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden
von Kirsten Liese
Am 11. Juli wird er sage und schreibe 96 (!) Jahre alt. Herbert Blomstedt ist der älteste unter den Altmeistern seiner Zunft, ohnehin der Älteste unter den aktiven Dirigenten, ein Phänomen, das es vor seiner Zeit nicht gab und wohl auch nicht mehr geben wird. Einer, der in diesem hohen Alter noch auswendig dirigiert und immer noch viel unterwegs ist zwischen Berlin, Wien, Amsterdam, Dresden, Leipzig und Luzern, um mit Europas Spitzenorchestern zu arbeiten.
Sein jüngster Auftritt in der Dresdner Semperoper ist ideal platziert am Vorabend der Richard Strauss-Festtage, die alles Zeug gehabt hätten, die diesjährigen Osterfestspiele in Salzburg und Baden-Baden in den Schatten zu stellen, wenn Christian Thielemann, die Hauptperson, nicht aus gesundheitlichen Gründen abgesagt hätte.
Wenn schon nicht Thielemann, dann zumindest Blomstedt, tröste ich mich, zumal Anton Bruckner im Hauptblock des Abends auf dem Programm steht und damit nicht nur einer meiner persönlichen Lieblingskomponisten, sondern auch einer, dessen Sinfonik Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden über viele Jahre intensiv geprobt und in Konzerten grandios zu Gehör gebracht hat.
Die Sechste, die sich Blomstedt diesmal vorgenommen hat, zählt seltsamerweise zu den Sinfonien des Oberösterreichers, die seltener gespielt werden. Mir geht es wie Sergiu Celibidache, ich kann nicht verstehen, warum sie als spröder empfunden wird als die beliebtere Vierte, Siebte oder Achte, ist doch auch diese Sinfonie durchdrungen von herrlichsten Motiven, festlichen Gipfelgängen, aufwühlender Dramatik und lyrischer Schwermut.
Auch Blomstedt fühlt sich Bruckners Musik in besonderer Weise verbunden, und das vermittelt sich in seinem jüngsten Konzert in der Semperoper in jeder Faser.
Langsam, aber ohne Gehhilfe kommt er aufs Podium, dirigiert freilich seit seinem Beinbruch im vergangenen Jahr nicht mehr im Stehen. Die Taschenpartitur liegt zugeschlagen auf seinem Pult vor ihm, gebraucht wird sie an diesem Abend nicht. Und so wie Blomstedt plastisch die Musik bis in kleinste Verschnörkelungen hinein mit seinen Händen formt – seit jeher ohne Taktstock – ist zu merken, wie stark er sie verinnerlicht hat und durchlebt.
Das Orchester folgt ihm hochkonzentriert vom ersten komplizierten Einsatz mit den nervösen Pianissimo-Triolen in den Violinen und dem düsteren ersten Hauptmotiv in den tiefen Streichern mit der Quinte auf den Grundton und den ihn umspielenden lang gezogenen Viertel-Triolen an.
Atmosphärisch ist man da schon mitten drin in diesem Maestoso, das dieses Motiv im gesamten Orchester bis zum Fortissimo steigert und sich dann, auf dem Höhepunkt angekommen, an dem festlichen, opulenten, stark rhythmisierten Klang berauscht. Blomstedt braucht dafür keine ausladenden großen Bewegungen, sie wirken durchweg sehr sparsam, präzise und figürlich, wenn er im Wechsel von linkem und rechtem Arm anzeigt, wie die Stimmen ineinander greifen. Was ihn segnet – ähnlich übrigens wie in früheren Zeiten Furtwängler, Abbado oder Mariss Jansons – ist eine natürliche Autorität.
Den zweiten Satz, das sehr feierliche Adagio, das ebenfalls mit Bruckners Lieblingsintervall, der Quinte nach unten, einsetzt, „markig“ und „lang gezogen“, wie vom Komponisten vermerkt, nimmt der Schwede für mein Empfinden eine Spur zu schnell. Die Lamenti in Oboen und Klarinetten berühren gleichwohl mit ihren elegischen Seufzern, über den langen Linien mit ihren filigranen Einschüben spannt Blomstedt weite Bögen. Da scheint er wieder auf, der dunkle, goldene Streicherklang dieses momentan noch dank Thielemann im Zenit seiner Geschichte stehenden Orchesters, nur das Blech, allen voran die Sektion der Hörner habe ich schon brillanter gehört.
Immerhin aber im Trio-Teil des Scherzos, wo die Hörner exponiert auf die Pizzicati der Streicher antworten, lassen sie einen runden kompakten Klang vernehmen.
Den Höhepunkt dieser musikalischen Reise, die bei Blomstedt insgesamt 56 Minuten währt – zum Vergleich bei Celibidache zehn Minuten länger – gerät an diesem Abend das Finale, das Blomstedt in seinen feingliedrigen, lyrischen Momenten sehr filigran ausziseliert, die Instrumentengruppen klanglich aufs Trefflichste ausbalanciert, und in dem vor allem auch die Übergänge zwischen den dramatischen Steigerungen und den kantableren Passagen sehr organisch in den Verlangsamungen und Beschleunigungen gelingen.
Was für ein Glück, fährt es mir durch den Kopf, dass ich dieses Konzert in Dresden im Kreise eines disziplinierten, gut erzogenen Publikums erleben darf, das andächtig lauscht und nicht die Musik durch allerhand Nebengeräusche stört, wie es offenbar schon in diversen anderen Konzerthäusern Europas an der Tagesordnung ist. Hier taucht der ganze Saal tief ein in die teils überirdischen Sphären. So kann sie zu einer spirituellen Erfahrung werden.
Der sechsten Sinfonie voran stellte Blomstedt die „Psalmensymphonie“ von Igor Strawinsky. Eine Kombination, die durchaus spannende Verbindungen offenbart, schrieb doch Strawinsky dieses Werk zur Ehre Gottes analog zu Bruckner, der seine Neunte dem „lieben Gott“ widmete. Und auch seitens der kontrapunktischen Komposition und teils massiven Klangballungen tun sich durchaus so manche Parallelen auf.
Die Besetzung mit lediglich Celli und Kontrabässen unter den Streichern, zwei Klavieren, Harfen, Bläsern und Chor allerdings wirkt reiflich exotisch, und wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich bekennen, dass mir die Reize dieses teils schon sehr atonalen, bombastischen Oratoriums weitgehend verborgen geblieben sind.
Allein der letzte Teil, das „Alleluja“, das sich zum Ende hin nicht mehr von der Stelle bewegt, entfaltete einen meditativen Sog.
Vor allem aber den Brucknerdirigenten Blomstedt feierte das Dresdner Publikum mit stehenden Ovationen. Wieder und wieder kam der 95-Jährige, nun beim Gehen gestützt von einer Begleitung, auf das Podium, um den emphatischen Beifall entgegenzunehmen. Ein Beifall der großen Dankbarkeit, das noch einmal erlebt haben zu dürfen.
Kirsten Liese, 3. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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