Zubin Mehta © Wilfried Hoesl
Philharmonie Berlin, 15. Juni 2023
Robert Schumann: Ouvertüre zu der Oper Genoveva, op.81
Béla Bartók: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2
Peter Tschaikowski: Symphonie Nr. 4 op.36
Yefim Bronfman, Klavier
Zubin Mehta, Dirigent
Berliner Philharmoniker
von Kirsten Liese
Wenn Dirigenten in ein hohes Alter kommen, werden die Zeichen oft minimalistischer. Auf den genialen Sergiu Celibidache traf das genauso zu wie auf Daniel Barenboim. Und auch bei dessen Freund Zubin Mehta, der bei seinem jüngsten Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter tosendem Beifall mit so vorsichtigen, langsamen Schritten das Podium erklomm wie einst Celibidache in seinen letzten Lebensjahren, werden die Bewegungen selbst bei einem so martialischen Stück wie Bartóks zweitem Klavierkonzert von Mal zu Mal reduzierter.
Vom ersten Takt an führt das Klavier mit kraftvollen, virtuosen Skalen das Konzert ohne eine orchestrale Einleitung an. Es ist der Beginn eines gewaltigen Perpetuum mobile, das kaum mehr enden will, dem Interpreten keine Verschnaufpause gönnt. Yefim Bronfman besitzt die idealen Pranken für einen solchen Kraftakt, serviert die endlosen schnellen, fingerbrecherischen Kaskaden, Akkorde und Sprünge mit einer Akkuratesse und Rasanz, dass es einem den Atem verschlägt.
Man mag sich dabei an Strawinsky erinnert fühlen, wenngleich dessen Klaviermusik noch aggressiver anmutet. In der Härte seines Anschlags bleibt Bronfman entsprechend moderat.
Das, was letztlich den Reiz dieses Werks ausmacht, ist auch weniger die dem Solisten abverlangte große technische, athletische Leistung, als vielmehr die ungewöhnliche Instrumentation: Im ersten Satz haben die Streicher nichts zu tun. Allein die Bläser und das Schlagwerk bieten hier den Kontra-Part zum Klavier. In aller Pracht und Majestät erstrahlen Hörner, Trompeten und Posaunen, verströmen mithin die Ruhe, die sich im Solopart partout nicht einstellen will.
Die letzte Würze bescherten Xylophone und Triangel mit feinen, sublimen Dreingaben an vergleichsweise leisen Stellen, an denen man sie exponiert hören konnte wie selten.
Im zweiten Satz kommt es dann zum Tausch, da treten ausschließlich die Streicher nach einer leicht diesig anmutenden Introduktion mit dem Klavier in einen Dialog, bevor im Finale alle Instrumente unter Einsatz von motivischen Reminiszenzen an den ersten Satz zusammenwirken.
Da wirkt an diesem Abend bei den Berliner alles wie abgezirkelt: Dynamik, Klangfarben und Tempi.
Wenn nur in der Reihe vor mir nicht ein schätzungsweise sechsjähriges, mit dieser Musik freilich völlig überfordertes Kind gesessen hätte, das sich nach kurzer Zeit langweilte und sehr unruhig wurde. Mich reißt eine solche Unruhe aus der Musik heraus. Unweigerlich zieht der Quälgeist meine Blicke auf sich.
Grundsätzlich ist es ja begrüßenswert, wenn Kinder an die klassische Musik herangeführt werden, aber: Liebe Eltern, es gibt so viele geeignetere Formate, Familien- und Babykonzerte, bitte nehmen Sie Ihre Kinder doch dahin mit, wo auch entsprechend geeignete Stücke zusammengestellt werden!
Und wo ich schon bei dem Publikum bin, das sich in Berlin im Großen und Ganzen glücklicherweise auf die Gepflogenheiten versteht: Wenn es sich warum auch immer nicht vermeiden lassen sollte, den Saal während des Konzerts zu verlassen: Bitte warten Sie zumindest das Ende eines Satzes ab, bevor Sie auf ihren Platz zurückkehren.
Tatsächlich erspähte ich nun zum zweiten Mal schon in der Philharmonie eine Frau, diesmal sogar exponiert auf den Podiumsplätzen, die sich mitten in einem Satz ungeniert durch die gesamte Reihe bis zu ihrem Platz in der Mitte durchquetschte. Das Selbstverständliche muss wohl gesagt sein: Das stört und zeugt von Rücksichtslosigkeit.
Aber zurück zum Konzert selbst.
Den Hauptblock bildete Tschaikowskys Vierte, deren Kopfsatz mit den schicksalhaften Blech-Chören in der Einleitung wie eine Brücke zu dem vorangegangenen Bartók anmutete. Das „Moderato con anima“ und das „Molto più mosso“ standen seitens eines doch recht herben Streicherklangs noch unter dem Eindruck des Vorangegangenen. Auf die Weise entstand zwar eine interessante Beziehungskette, aber im Klanglichen mutete mir Tschaikowskys Musik bei aller Tragik und Dramatik doch etwas zu grob an. Nicht, dass die Schwermut darin nicht auch ihren Raum gehabt hätte, aber ihr fehlte doch ein bisschen die Wärme, die sich zum Auftakt des Abends bei Schumanns Ouvertüre zu seiner einzigen Oper Genoveva vernehmen ließ.
Ab dem zweiten Satz wurde der Tschaikowsky dann aber wunderbar, auch wenn das Andantino einen noch elegischeren Anstrich hätte vertragen können.
Das herzerweichende, zentrale Lamento zu Beginn dieses Andantinos ist freilich ein Fall für den grandiosen Albrecht Mayer, der es wunderbar arios und dolcissimo spielt. Und damit Ausdruck, Farbe und Phrasierung vorgibt, die später Daniele Damiano am Fagott exakt so trefflich übernimmt – wie in bester Kammermusik.
Das Wehmutsvolle, Sehnsüchtige der Sinfonie blüht nun auch gänzlich in den Streichern auf.
Sehr stimmungsvoll dann das Pizzicato-Scherzo, das für meinen Geschmack eine Spur leiser hätte einsetzen dürfen. Was mir aber einmal mehr an Mehta so gefällt, zeigt sich beispielhaft im Zwischenteil, wenn Oboe, Klarinette und Flöte mit ihrem fröhlichen, kecken Tirilieren am Zug sind. Da hört er gebannt zu, schlägt kaum mehr den Takt, empfiehlt sich als ein zurückhaltender, vornehmer Stichwortgeber par excellence, der letztlich darum weiß, dass solch exquisite Solisten eines Spitzenorchesters das auch ohne einen Dirigenten genauso so schön spielen. Schließlich ist ein Dirigent nicht dazu da, das Publikum mit Gefuchtel zu beeindrucken, sondern zu ermöglichen, dass Musik entstehen kann. Wenn Musik so kammermusikalisch wird, stört es mitunter fast schon, wenn jemand stur den Takt schlägt.
Mehta ist ein ehrlicher Dirigent. Er spürt, wann das Orchester einen Impuls braucht und wann er einfach nur laufen lässt. Und das gilt gleichermaßen für den zwischen Dramatik und Feierlichkeit changierenden, mit einem imposanten Becken-Schlag eröffnenden Finalsatz.
Der besaß die gebotene Verve, zeugte von wunderbarer Breite in den Steigerungen und spürbarer Spielfreude der Musiker. Da geriet man wahrhaft in Schwung.
Wie schön, dass ich diesen zweiten Teil vollends genießen konnte. Der kleine Trick, die Mutter mit dem Kind zu fragen, ob sie nicht mit mir und meiner Begleitung die Plätze tauschen würde, führte – dies auch zur Freude meiner Sitznachbarn – zum Erfolg, dass sie zur zweiten Hälfte gar nicht mehr aufkreuzten.
Den großen Jubel des Publikums hat sich der mittlerweile 87-jährige Mehta redlich verdient. Es war sehr anrührend zu erleben, wie er mehrfach in kleinen Schrittchen auf das Podium zurückkehrte, um die stehenden Ovationen entgegen zu nehmen.
Kirsten Liese, 16. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at