Festspielluft IV: Wahn gibt’s in Bayreuth auch ohne Meistersinger

Festspielluft IV: Wahn gibt’s in Bayreuth auch ohne Meistersinger  Bayreuth, 22. Juli 2023

Andreas Schager  © David Jerusalem

von Peter Walter

Die Zeit ist da. Die Wagner-Welt blickt mal wieder auf den heiligen Hügel in einer gewissen fränkischen Provinzstadt. Nur ist diesmal nichts wie sonst. Zum ersten Mal steht die Familienherrschaft auf dem Grünen Hügel akut in Frage. Freie Karten – früher rar wie das Rheingold – gibt es wie Sand am Meer. Und zu allem Überfluss bleibt auch der heilige Wagner-Gott Christian Thielemann fern der Festspiele! 

Doch mit den richtigen Turbulenzen ging es bereits am 5. Mai 2023 los: Ekaterina Semenchuk sagt die Kundry-Premiere ab, Elīna Garanča und Ekaterina Gubanova springen ein. Allein das könnte schon die Schlagzeile des Bayreuth-Jahres gewesen sein. Nur sollte das erst der Anfang sein. Denn seitdem wurden nicht weniger als zehn weitere Hammer-Partien – darunter VIER TITELROLLEN – umbesetzt.  Puh. Gerade einmal zwei Werke hat der Umbesetzungshammer verschont. Wahn, Wahn, überall Wahn! Und das ganz ohne Meistersinger.

Summa Summarum: Nichts ist wie früher. Die Gäste haben – bis vor zwei Wochen – die „Katze im Sack“ gekauft. Werfen wir einmal einen Blick auf die Umbesetzungen und ihre künstlerischen Konsequenzen.

Bei der Premiere wird noch ein zweiter Einspringer am Werk sein: Statt Wagner-Neuling Joseph Calleja singt Stahlkrafttenor Andreas Schager die Titelpartie. Ganz ehrlich: Calleja war sowieso einer der vielen Wildcards. Sein Hoffmann ist genial. Sein Parsifal-Debüt hätte die Nominierung für die „Opernkatze im Sack des Jahres“ verdient. Herr Calleja, wir freuen uns alle auf ein wohlverdientes Wiedersehen. Und was auch immer bei diesem AR-Brillen-Experiment der Technikindustrie rauskommen mag: Der Schager Andi wird’s richten!

Das Rheingold kommt ohne Umbesetzungen aus. Nicht so die Walküre. Emily Magee raus, Elisabeth Teige rein. Nun übernimmt die norwegische Shooting-Star-Sopranistin also noch die Sieglinde. „Kinder, macht’s neues“ gilt endlich auch musikalisch. Und bei all den zu erwartenden Reaktionen auf diese umstrittene Inszenierung setzt die Leitung musikalisch nun auf Nummer sicher. Weiter so!

An den im letzten Jahr musikalisch sensationellen Siegfried traut sich niemand mit dem Umbesetzungshammer. Gut so! Und Andreas Schager setzt den Siegfried fort und springt in der Götterdämmerung noch für den im letzten Jahr oftmals schwächelnden Stephen Gould ein. Nicht zu vergessen: Die leider sehr schrill singende und ausgebuhte Brünnhilde des letzten Jahres, Iréne Theorin, wurde schon seit längerem von der bewährten Sopranistin Catherine Foster abgelöst. Meine kritische Umbesetzungswunschliste ist zu mindestens für die Götterdämmerung erfüllt.

Und es geht weiter: Für Dmitry Belosselskiy – vor zwei Jahren ein brillanter Hunding – kommt Mika Kares als Hagen. Anders als Gould haushaltet Elisabeth Teige ihre Kräfte anständig und überlässt die Gutrune an Aile Asszonyi. Bewährte Kräfte in den Hauptrollen, spannende Neulinge in den Nebenrollen… sehr vielversprechend! Ich bin gespannt.

Musikalisch auf den Kopf gestellt wird aber auch der Tannhäuser. Und wie! In der Titelpartie: Der an allen anderen Häusern überragendste Wagner-Tenor Klaus Florian Vogt statt Stephen Gould. Ob der Dithmarscher seinen Titel als bester Tannhäuser der Welt auch auf dem Grünen Hügel verteidigt? Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Leider, leider, leider ist die allmächtige Elisabeth in Form von Lise Davidsen schon länger raus. Angesichts dessen letztjähriger Leistung traue ich es ihrer Landsfrau Elisabeth Teige zu, sie ehrenhaft zu vertreten. Zu guter Letzt musste auch hier für Dmitry Belosselskiy Ersatz gefunden werden: Günter Groissböck kehrt als Landgraf Hermann zurück in die Produktion. Und sollte im Parsifal nun auch noch Georg Zeppenfeld als Gurnemanz ausfallen, wäre ein naheliegender Einspringer schon vor Ort.

Bleiben noch der Holländer und der Tristan. Beide mit umbesetzten Titelpartien. Kleine Nebensache in dem Umbesetzungsmeer von 2023. Ersteren übernimmt Michael Volle. Wo war der eigentlich die ganze Zeit? Glaubt irgendjemand ernsthaft, ein stimmlich erfolgreiches Wagnerfest ohne den stärksten Wagner-Bariton der heutigen Zeit feiern zu können? Die Wunschliste an Partien, die er noch übernehmen sollte, ist lang.

Clay Hilley springt schon wieder ein, diesmal mit ein wenig mehr Vorwarnung. Letztes Jahr wurde er direkt aus dem Urlaub in die Götterdämmerung berufen, dieses Jahr kam der Anruf anscheinend schon einige Wochen früher. Wünschen wir ihm einen ebenso erfolgreichen Tristan. Und, lieber Stephen Gould: Sie haben sich diese Pause mehr als verdient! Kommen Sie gut durch den Sommer und den Rest ihrer Karriere!

Das Beste nun zuletzt. Elīna Garanča übernimmt die Kundry – zu mindestens drei Mal. 2017 sagte sie gegenüber Klassik-Begeistert: „Eine Kundry in Bayreuth zu singen, wäre die absolute Krönung!“ Dieser Traum geht nun in Erfüllung. Für sie und hoffentlich auch für uns. Die vier verbleibenden Vorstellungen macht Ekaterina Gubanova. Erst im März sang sie die gleiche Partie an der Wiener Staatsoper. Und war dort in der Form ihres Lebens. Zwei Kundrys sorgen also für viel, viel Vorfreude auf diesen Parsifal!

Wobei… Moment mal, da war doch was. Angeblich soll Frau Garanča die Parsifal-Hauptprobe schon während der ersten Pause verlassen haben. Ein Bekannter will sie in ihrem Wagen weg düsen gesehen haben… war das so geplant? Oder ein Versehen? Singt Elīna Garanča – die laut übereinstimmenden Berichten eh sehr spät in die Probenphase eingestiegen ist – jetzt also die Premiere ohne Hauptprobe? Die drei Noten im dritten Aufzug wird sie ja wohl aus dem Stand schaffen… Es bleibt auch hier sehr, sehr spannend.

So, jetzt mal zum Fazit. Dass ich – wie viele AutorInnen diverser Medien – einen ganzen Artikel nur den Umbesetzungen widmen konnte, wird hoffentlich ein einmaliges Ereignis bleiben. Dennoch – und das bei aller Empathie mit den sehr zahlreich erkrankten SolistInnen: Der sängerische Umbruch der letzten Wochen hat das Potential, diese Festspiele zum musikalischen Mekka des Jahres zu krönen! Bringt also ausgerechnet die Mutter Natur das Wagner-Haus wieder in die Erfolgsspur? 

Peter Walter, 22. Juli 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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