Royal Concertgebouw Orchestra, Philharmonie-Berlin © Fabian Schellhorn
Iván Fischer und das Concertgebouworkest mit Widmann und Mahler in der Philharmonie. Man kann von diesem Sound einfach nicht genug bekommen.
Berliner Philharmonie, 26. August 2023
Jörg Widmann (*1973) – Das heiße Herz (2013/2018). Liederzyklus für Bariton und Orchester (Auswahl)
Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 7 in e-Moll
Michael Nagy, Bariton
Concertgebouworkest
Iván Fischer, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Es gibt diese Mahler-Momente, die vergisst man nicht. Sie bleiben lange, vielleicht für immer, im Gedächtnis und im Herzen.
In meinem an Mahler-Sinfonien reichen Zuhörerleben sorgte die Kombination des Amsterdamer Concertgebouworkest mit seinem verstorbenen Chefdirigenten Mariss Jansons für solche Momente: die erste und sechste Sinfonie in Köln und beim Musikfest Berlin, Mitte der 2000er war das (so kam ich überhaupt zu Mahler und zum Musikfest), sowie die zweite (Dezember 2009) und dritte (März 2010) in Amsterdam.
Von den vielen hervorragenden Auferstehungssinfonien im Livekonzert dürfte neben Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern (mehrfach) auch das jüngste Erlebnis mit Lahav Shani und den Rotterdamern im Gedächtnis bleiben. Im vergangenen Mai war das, in Dortmund. Fühlt sich an wie gestern.
Dann war da noch diese Neunte in Luzern mit Claudio Abbado, die über allen anderen Mahler-Aufführungen schwebt: eines der ganz wenigen Konzerte, die nicht nur exquisit waren, sondern geradezu von einem anderen Stern, mit tiefen Einblicken in eine jenseitige Welt, an die man bis dahin nicht so recht geglaubt hatte. Anrührend. Ergreifend. Außergewöhnlich. Ach, es gibt keine Worte. Und so verließen danach mein Begleiter und ich denn auch schweigend im Sommer 2010 das KKL.
Und dann gab es noch eine Erste in der Beethovenhalle (!), mit Iván Fischer und seinen fabelhaften Budapestern. Im Jahr darauf gastierte er abermals in Bonn, sogar mit einer dreitägigen Residency, und diesmal mit der Siebten, die irgendwie ein Stiefkind- bzw. Schattendasein im Reigen aller (vollendeter) Neune Mahlers fristet. Beileibe nicht alle mögen diese fünfsätzige Siebte, die der Komponist selbst für seine beste hielt. Sie hat ein merkwürdiges Finale, das ich persönlich fantastisch-überdreht finde, und vor allem hat sie diese bizarren, geheimnisvollen Binnensätze 2 und 4, die beide als „Nachtmusik“ bezeichnet werden. Mozart könnte weiter entfernt nicht sein. Oder doch? Eine Serenade mit Mandolineneinsatz? Da war doch was. Und es war nicht Eine kleine Nachtmusik.
Diese wunderbare, ungeliebte Siebte gab Iván Fischer jedenfalls nun auch zum Eröffnungskonzert des diesjährigen Musikfests Berlin, und zwar mit dem Concertgebouworkest. Das ist eine sehr reizvolle Kombination aus vielen meiner unvergessenen Mahler-Momente, geradezu der Jackpot, und so war die Erwartung sehr groß. Volle Hütte, warmer Auftrittsapplaus des an diesem Abend besonders aufmerksamen Publikums. Offenbar goutiert man, dass wieder einmal die Amsterdamer dieses so sympathische Festival eröffnen – wie im Vorjahr mit Mahler.
Jörg Widmanns hörbare Freude am Mischen der Orchesterfarben
Doch zuvor gab es Zeitgenössisches. Und alles, was ich bisher von Jörg Widmann gehört habe, hat mir unglaublich gut gefallen. Vor einigen Jahren gab das Cleveland Orchestra unter seinem Chef Franz Welser-Möst sogar einen ganzen Abend mit Werken von Widmann. Ein mutiges Programm, wie es typisch für das Musikfest ist. Im Nachhinein bereue ich, nicht dieses Konzert ausgewählt zu haben für meine alljährliche Musikfest-Pilgerreise, die 2024 im 20. Jahr in Folge begangen wird: Die Zeit, sie ist eben „ein sonderbar’ Ding“…
In zwei Wochen wird Herr Widmann als Dirigent vor den Berliner Philharmonikern stehen, und in den beiden Konzerten wird er nicht „nur“ dirigieren, sondern auch als Komponist und Klarinettist zu erleben sein.
Michael Nagy war der Solist in Widmanns Liederzyklus Das heiße Herz, aus dem im ersten Teil des Abends eine Auswahl – fünf von acht Liedern – gegeben wurde. Seine Stimme habe ich schon länger als sehr warm und wohlklingend in Erinnerung. Die im Programmheft abgedruckten Texte waren gar nicht notwendig, denn gebannt lauschte man der Phrasierung, Wandelbarkeit und perfekten Textverständlichkeit des Sängers. Selbst Kopfstimme und Sprechgesang faszinierten, doch gerade in der tiefen Lage hat Nagys Stimme ein besonders angenehmes Timbre. Das fünfte Lied, das längste, beginnt ohne Orchester. Nagys Bariton füllt mühelos den großen Saal.
Allzu oft ist man bei zeitgenössischer Musik erleichtert, wenn man sieht, dass der Dirigent die letzte Partiturseite erreicht hat. Nicht so bei Widmann; nicht so bei Nagy. Man war ein wenig traurig, als es vorbei war, hätte sich gar den kompletten Zyklus des 50jährigen – anwesenden – Klangmagiers gewünscht. Und das Publikum bewies vorbildliches Verhalten am Schluss, indem es zu einer sehr langen Stille beitrug und nicht voreilig applaudierte. So konnte die Musik wunderbar verklingen. Selbst der manspreader zu meiner Rechten, der sich vor Konzertbeginn immer wieder beunruhigend oft in Gemächtnähe zurechtgezupft hatte, verharrte still.
Es muss einen irren Spaß machen, sich ausgiebig am orchestralen Farbkasten zu bedienen. Und Widmann beherrscht den Orchesterapparat. Gleich zu Beginn grundiert ein Akkordeon den Gesamtklang auf hochinteressante Weise. Vor allem in Sachen Schlagwerk verwendet der Komponist Instrumente, von denen ich noch nicht einmal gehört hatte. Oder kennen Sie Buckelgong, Crotales und Vibraslap?
Für mich zählt Jörg Widmann neben John Adams zu den aufregendsten Komponisten unserer Zeit. Sicher: Ihre Musik dürfte der Donaueschingen-Fraktion zu gefällig sein. Sie ist jedoch keineswegs schlicht, sondern hochintelligent, reich an Klangfarben und rhythmischer Komplexität, und sie driftet nie in Atonalität oder gar Aleatorik ab. Gerade das erklärt vielleicht, warum sie von so vielen Menschen gern gehört wird. Sie ist witzig, klug und spannend; sie erzählt auch ohne Text; und sie ist niemals bierernst oder gänzlich ohne Humor.
Wie Olaf Wilhelmer im lesenswerten Programmheft erwähnt, sind etliche Anspielungen an Schumann und Mahler „Ausdruck von Widmanns Liebe zur Romantik“. Wenn’s derb wird, schimmert schon mal im Bierzelt-Blech der Ochs auf Lerchenau durch. An anderer Stelle Bernstein. Und der Jazz im vierten Lied ist nur eine weitere Hommage von vielen. Man weiß oft gar nicht, welches Instrument gerade welchen Klang produziert. Mal streicht ein Bogen über ein Vibraphon, mal erinnert das hohe A in den Geigen an den Beginn von Mahlers Erster. Spannend.
Schattenhaftes und Überdrehtes im zweiten Teil: Mahlers Siebte
Oft wird Gustav Mahlers 7. Sinfonie wegen ihrer Nachtmusiken und auch wegen des Mittelsatzes als gruselig angesehen („ein seltsames Werk“, schrieb Georg Solti, auf den besonders der erste Satz „wie ein Alptraum“ wirkte). Das Scherzo ist an Schrägheit und Bizarrerie allenfalls noch mit jenem der Neunten vergleichbar. Und wo diese mit einem tröstlichen Satz verklingt, endet die Siebte in komplettem Irrsinn.
Schon beim Einnehmen der Plätze nach der Pause vernahm man, wie sich der Tenorhorn-Solist auf der Bühne einspielte und eine Vorahnung davon gab, wie gut die Sinfonie werden würde. Sein Tenorhorn eröffnete denn auch brillant unter nervös-zittrigem Streicherpulsieren die 80minütige Reise. Die acht Kontrabässe waren, wie immer bei Iván Fischer, in einer langen Reihe vor dem Schlagwerk – hinter dem tiefen Holz – postiert. Fischer ist in seinen Tempi eher zügig, verglichen etwa mit der erstaunlich langsamen Lesart von Andris Nelsons mit den Wiener Philharmonikern jüngst in Köln.
Was für eine Wärme dieses Amsterdamer Weltklasseorchester wieder an den Tag legte! Man kann von diesem Sound einfach nicht genug bekommen. Was für ein unglaublich prachtvoller Streicherklang. Das atmete, das vibrierte, von Grusel war da aber so gar nichts. Was nicht heißt, dass wir es mit einem weichgespülten Gustav zu tun hätten. Doch die komplexe Partitur der gesamten Sinfonie wurde transparent wie ein Kinderlied präsentiert.
Das Hörner-Zwiegespräch im zweiten Satz war insofern bemerkenswert, als Solohornistin Katy Woolley einen ganz dezidiert forschen Ton anschlug, dem der nur einen Meter hinter ihr sitzende Kollege mit sanftesten piani begegnete. Schöner Kontrast, und nur eines von vielen bemerkenswerten Details. Noch am Folgetag ging mir der gesamte Satz bei der Rückfahrt durch den Kopf.
Der dritte Satz dann wieder in einem Affenzahn, ein burlesker, trunken-taumelnder Walzer in Richtung Abgrund. Und zwar auf einer Eisfläche. Ohne Schlittschuhe. Irrwitzig gut und sicher ausgeführt, hier vor allem von den überragenden Holzbläsern. Es ist ja bekannt, wie beliebt das Schlittschuhlaufen in den Niederlanden ist… Hier rast der Satz ohne Netz und doppelten Boden gen Schlussakkord. Pauke, Bratschen-pizzicato, das war’s.
Zum vierten Satz postiert Fischer Gitarre und Mandoline vorne, und die beiden Musiker betreten die Bühne erst jetzt. Zum Glück gibt’s keinen störenden Auftrittsapplaus. Auch nicht beim Abgehen nach dem vierten Satz, der zweiten Nachtmusik, dieser Serenade, in der Woolleys Horn versöhnlicher klingt. Weiches F-Dur, schönste Melodieführung in allen Gruppen, berührendes Solo der Konzertmeisterin.
Das Finale hätte ich mir attacca gewünscht, aber egal: Fischer treibt das Orchester mit zackigen Bewegungen an. Die Pauken habe ich hier noch nie so transparent gehört, wie sie Tomohiro Ando mit harten Schlegeln bedient. Das Seitenthema bietet kaum Gelegenheit zum Durchatmen. Mit viel Getöse – im besten Sinne – und Tschingderassabumm geht der wilde Janitscharenritt weiter, wieder ertönen die Herdenglocken, dazu die Röhrenglocken, und dann sind wir angekommen in diesem ultrakomischen C-Dur, dieser überdrehten Apotheose der merkwürdigeren Art.
Dabei bleibt für mich immer eine große Frage beim völlig verrückten vorletzten Akkord, der so lange angehalten wird, bis der zackig-kurze C-Dur-Akkord den Reigen abrupt beendet: Wird der Dirigent das zwo-drei-vier durchzählen? Nein, er tut es diesmal nicht! Finde ich immer etwas schade, aber Iván Fischer darf das.
Und dann passiert dem schreibenden Kollegen zu meiner Linken – es ist nicht der manspreader – das, was mir zum allerletzten Mal in Köln passiert war, bevor ich mich disziplinierte, im Januar 2011, als die Amsterdamer dieselbe Sinfonie unter Boulez darboten: Unmittelbar nach dem losbrandenden Jubel entfuhr ihm ein „Bravo“, das aus vollem Herzen kam. Na, dit wird wohl ooch ne jute Kritik, wa?
Auf dem Orchester-LKW, der mitsamt Anhänger diesmal rechts vom Haupteingang der Philharmonie stand und gleich nach dem Konzert beladen wurde, denn es ging ja weiter nach Luzern und Ljubljana, prangt der Schriftzug Concertgebouworkest. The Art of Listening. Nicht die Kunst des Musizierens; das wirkte arrogant, das hat man nicht nötig. Nein, die Kunst des Zuhörens. Und das ist – neben dem feinen aufeinander-Hören innerhalb des Orchesters – sehr oft ein Merkmal des Musikfest-Publikums. Es kommt der Musik wegen. Kein Gala-Gehabe, sondern aufmerksames Hören, gefolgt von langem, dankbarem Applaus. Im Foyer sieht man junge Männer mit Hipsterbart und Dutt nebst eleganten älteren Damen, Abendkleider nebst Boomerbeinen in kurzen Hosen, Anzugträger nebst Jeans und T-Shirt. Wichtig ist die Musik. Und die wird hier bei mutiger Programmierung in höchster Qualität geboten.
Und trotz des seltenen Glücks, Mahlers Siebte in den letzten zehn Monaten in zwei grandiosen Aufführungen mit den Berliner und Wiener Philharmonikern in Frankfurt und Köln gehört zu haben: Iván Fischers Lesart beim Eröffnungskonzert des Berliner Musikfests 2023 dürfte in meinen Mahler-Pantheon aufgenommen werden.
Dr. Brian Cooper, 28. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“ Dortmund, Konzerthaus, 13. Mai 2023
Grandioses Widmann/Mahler Konzert!! Beide Teile, aber wie hieß die Konzertmeisterin?
Michael Fürst
Lieber Herr Fürst,
Herr Jongejan, PR- und Pressemanager des Orchesters, schrieb mir Folgendes:
„The concert master for this tour was Sarah Christian from Kammerphilharmonie Bremen. She replaced our concert master Vesko Eschkenazy because he recently became father and is currently on leave.“
Ich finde, da kann man sowohl Frau Christian als auch Herrn Eschkenazy nur gratulieren.
Mit den besten Grüßen und Wünschen für eine schöne neue Konzertsaison,
Brian Cooper