„Sterben werd’ ich, um zu leben!“: Eine Mahler-Sternstunde in Dortmund

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“  Dortmund, Konzerthaus, 13. Mai 2023

Lahav Shani © Marco Borggreve

Eine überwältigende Auferstehungssinfonie bestätigt im Konzerthaus einmal mehr: Rotterdams Philharmonisch Orkest ist eine Formation von Weltrang


Dortmund, Konzerthaus, 13. Mai 2023

Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“

Rotterdams Philharmonisch Orkest

Jugendkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund (Einstudierung: Felix Heitmann)

Laurens Symphonisch (Einstudierung: Wiecher Mandemaker)

Chen Reiss, Sopran
Anna Larsson, Mezzosopran
Lahav Shani, Dirigent

von Brian Cooper, Bonn

Sehr oft spricht man nicht nur in den Niederlanden von der großen Mahler-Tradition des Concertgebouworkest, und sie ist in der Tat bedeutend – nicht zuletzt, weil Gustav Mahler höchstpersönlich seine Werke in Amsterdam dirigierte.

Nachdem ich nun über die Jahre etwa zwei Drittel aller Mahler-Sinfonien auch von der vermeintlichen „kleinen Schwester“ aus Rotterdam gehört habe (u.a. die Zehnte in der Cooke-Fassung in Rotterdam sowie kurz vor dem ersten Lockdown eine aufwühlende Fünfte in Essen, beide mit dem damaligen Chef Yannick Nézet-Séguin), möchte ich festhalten, nein, muss ich festhalten, dass Rotterdams Philharmonisch Orkest (oft auch als „Rotterdam Philharmonic Orchestra“ anglisiert) zum Besten gehört, was wir derzeit an Orchesterkultur hören dürfen.

Nun habe ich im Laufe der Jahrzehnte auch so manche Auferstehungssinfonie gehört, fast immer auf hohem Niveau, oft einfach nur gut. Etwas gelangweilt habe ich mich (wie immer) bei Daniel Harding, 2016 in Essen (Mahler Chamber Orchestra). Dann die Berliner unter Simon Rattle in Paris und mehrfach in Berlin: toll. Recht kühl damals Franz Welser-Möst mit Cleveland in Köln, aber jenes Konzert war für einen Freund der Ausgangspunkt einer wunderbaren, lebenslangen „Mahlerphilie“, wenn nicht gar „Mahlermanie“. Und jüngst in Hamburg überzeugte Klaus Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, auch wenn das Erlebte nicht ewig im Gedächtnis bleiben wird.

Unangefochten an der Spitze meiner persönlichen Auferstehungssinfonien für die Ewigkeit sind zwei Amsterdamer Aufführungen mit Mariss Jansons und dem Concertgebouworkest im Dezember 2009. Genau deswegen geht man doch so oft ins Livekonzert: um alle paar Jahre mal dieses Gefühl von Rührung, Ergriffenheit, Überwältigung zu erleben, das, wenn das Konzert sensationell ist, geradezu körperlich wird.

Und dieses Gefühl erlebten am vergangenen Samstag offenbar viele Menschen in Dortmund: Der große Jubel des Publikums, aus dem tiefe Dankbarkeit für eine großartige Aufführung zu strömen schien, wollte einfach nicht enden.

Rotterdams Philharmonisch Orkest © Patrik Klein

Gegenüber einem Freund stellte ich mal vor Jahren die These auf, man merke schon beim Stimmen der Instrumente, ob’s ein guter Abend wird. Diese gewagte und keineswegs belegbare Behauptung kann man hingegen mühelos übertragen auf den Beginn eines Werks, also die ersten Takte. Bei Mahlers Zweiter sind es Tremoli der hohen Streicher im fortissimo, im Idealfall aggressiv angerissen, bevor Celli und Bässe ihre wild-abgehackten Linien am Rande des Wahnsinns spielen.

Und man konnte sich beruhigt zurücklehnen: Es würde fantastisch werden, und es wurde fantastisch. Wirklich alle Instrumentengruppen (was für Holz, was für Hörner!) spielten um ihr Leben und in Vollendung. Und das, obwohl man erst am Abend zuvor dasselbe Monumentalwerk in De Doelen gegeben hatte und eine dritte Aufführung ebendort für den folgenden Nachmittag angesetzt war. (Daher wohl die ungewohnt frühe Anfangszeit 19 Uhr in Dortmund.)

Es wäre unmöglich, und es würde den Rahmen sprengen, wollte man alle Details hervorheben, die so herausragend gelangen und einen im Kollektiv in einen Glückszustand versetzten. Natürlich soll unbedingt der Dirigent, Lahav Shani, hervorgehoben werden, der das Orchester souverän und unaufgeregt durch sämtliche Fährnisse der Partitur führte – und zwar so, dass man verblüfft war ob der sich plötzlich darbietenden Transparenz, die eigentlich in einem so komplexen und riesig besetzten Werk kaum möglich scheint.

Ob ein so kleines, warm und präzise gespieltes Detail wie die chromatische Tonleiter abwärts der Harfen am Schluss des Kopfsatzes; ob der so lieblich gespielte Beginn des zweiten Satzes, in dessen Verlauf die pizzicati der Geigen und Bratschen wie von Gitarren gespielt wurden; ob der Dreiachtel-Swing der Fischpredigt; ob der paradiesisch musizierte Choral von Posaunen, Kontrafagott und Tuba im letzten Satz, dessen vier erste Noten dieselben sind wie jene des mittelalterlichen Dies irae; oder ob der überirdisch schöne erste Einsatz des Chors: Es gäbe so viel zu beschreiben, zu berichten, zu bestaunen, zu beweinen. Diese wenigen Dinge seien stellvertretend erwähnt.

Groß gelang auch der erste Einsatz von Anna Larsson im vierten Satz („O Röschen rot“), die mit warmem, dunklen Timbre den Saal in ihren Bann zog. Auch das Timbre von Chen Reiss ist über die Jahre etwas dunkler geworden, ihr Sopran nach wie vor von Anmut und Reinheit beseelt. Übrigens hat Chen Reiss Mahlers Zweite mit dem Concertgebouworkest und Daniele Gatti eingespielt, und Anna Larsson ist die Solistin in meiner Lieblingsaufnahme der Dritten, einer Liveaufnahme aus London mit Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern.

Die beiden Sängerinnen saßen vorn und betraten die Bühne erst nach dem Kopfsatz. Dem Dortmunder Publikum ist hoch anzurechnen, dass es nicht reflexhaft losapplaudierte, sondern still blieb.

Shanis Wahl der Tempi war vorzüglich. Überhaupt ist es schön zu erleben, wie junge Dirigentinnen und Dirigenten in ihren 30ern und 40ern dieser Tage die Langsamkeit wiederzuentdecken scheinen. Oft dachte man ja, sie brausten unmittelbar im Anschluss zum Flughafen. Lahav Shani und Jakub Hrůša, um nur zwei Beispiele zu nennen, scheinen das Auskosten der wunderbaren Musik, die sie dirigieren dürfen, in den Vordergrund zu rücken. Hrůša leitete vergangene Woche in Köln die Wiener Philharmoniker in einer grandiosen Fünften von Schostakowitsch, deren Ende so gewagt langsam ausgekostet wurde, dass man schon an Leonard Bernstein dachte.

Ich habe an diesem Samstagabend in Dortmund Mahlers Zweite neu gehört. Das ist ein großes Kompliment. Und es liegt nicht daran, dass meine ebenfalls überwältigte Freundin die Sinfonie zum ersten Mal live erlebt hat, was ja doch irgendwie unweigerlich dazu führt, dass man ein Werk ebenfalls aus der „jungfräulichen“ Perspektive „mithört“. Sondern es gab einfach sehr viele Neuentdeckungen, die ich bis dato in dieser Partitur nicht vernommen hatte.

Ein paar Kilometer weiter übrigens, im Westfalenstadion, wurde ebenfalls gejubelt, da der BVB das Borussenduell gegen Mönchengladbach gewann und somit alle Chancen auf die Meisterschaft wahrte. Tolle Abendstimmung in der Ruhrpott-Metropole. Glückliche Gesichter im Konzerthaus wie vor dem Hauptbahnhof. Ein großer Dank an das Rotterdamer Orchester für eine Sternstunde, wie man sie nicht allzu oft erleben darf.

Dr. Brian Cooper, 15. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin Dirigent, Elbphilharmonie, 27. April 2022

Rotterdams Philharmonisch Orkest, Pinchas Zukerman, Lahav Shani, Elbphilharmonie Hamburg

Rotterdams Philharmonisch Orkest, Jan Lisiecki, Yannick Nézet-Séguin, Bernstein, Chopin, Rachmaninow, Elbphilharmonie Hamburg

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