Foto: Christoph Gedschold © Tom Schulze
Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ erzählt von einer unmöglichen, verbotenen Leidenschaft, von zwei Menschen, die sich vollständig in der Liebe auflösen. Beide hören auf, Individuen zu sein: „Tristan du, ich Isolde“, singt Tristan, „Du Isolde, Tristan ich“, singt Isolde.
Christoph Gedschold (* 1977 in Magdeburg) ist seit der Spielzeit 2022/2023 Musikdirektor der Oper Leipzig. Zur Wiederaufnahme wird er am Sonntag, dem 5. November 2023, das erste Mal bei dieser „Oper aller Opern“ am Pult stehen. Im Interview mit klassik-begeistert spricht der Dirigent über die Erlösung durch Liebe, die Wichtigkeit, das Leben wirklich zu leben, erklärt, warum Wagner der genialste Schwamm war und bestätigt, dass man Richard Strauss nie widersprechen kann.
Das Interview führte Leander Bull am 31. Oktober 2023.
klassik-begeistert: Herr Gedschold, „Tristan und Isolde“ ist, wie viele Wagner-Opern, von zahlreichen Mythen umgeben. Schon Wagner selbst hielt die Oper für „gefährlich“. Der Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld, der die Rolle des Tristan bei der Uraufführung 1865 sang, ist wenige Wochen danach unter ungeklärten Umständen gestorben. Solche Vorfälle ziehen sich durch die Aufführungsgeschichte. Es gibt ja sogar zwei Dirigenten – Joseph Keilberth und Felix Mottl – die noch während ihrer „Tristan“-Dirigate zusammengebrochen und gestorben sind. Ihr Leipziger „Tristan“ feiert am Sonntag Wiederaufnahme – geht es Ihnen gut?
Christoph Gedschold: (lacht) Noch geht es mir gut, ja! Alles noch im Rahmen, aber die Aufregung steigt. Ich hatte jetzt über zwei Wochen lang Proben mit den Sängern. Morgen kommt das Orchester dazu, dann setzen wir das Ganze zusammen. Ja, es ist eine an die Seele greifende Musik, wie ich es in der Form bisher noch nicht erlebt habe.
klassik-begeistert: Das hört man oft. Dieses Werk erschlägt einen förmlich mit einer solch quälenden Liebe, das ist nicht so leicht zu verdauen wie andere Opern. Würden Sie denn auch sagen, dass der „Tristan“ gefährlich ist? Sollte man Angst vor dieser Oper haben?
Christoph Gedschold: Nein, Angst auf keinen Fall, aber es ist eine Musik, die einen fordert – vor allem emotional. Es ist eine die eigenen Grenzen auslotende Oper.
klassik-begeistert: Was zieht einen denn eigentlich an dieser Oper an? Es ist ja eigentlich eine völlig kranke Liebe, die wir da sehen, auch diese Qualen, besonders im dritten Aufzug, sind kaum zu ertragen. Warum brennen so viele Menschen für diese Oper? Warum dieser schwere, kranke Stoff?
Christoph Gedschold: Wenn die Musik nicht so wäre, wie sie ist – mit ihrer regelrechten Suchtauslösung – wäre es wahrscheinlich eine normale Oper. Aber die Musik treibt das Ganze an die Grenzen der Ertragbarkeit, natürlich auch durch die ganze chromatische Motivik, diese Unaufgelöstheit, die in dem berühmten Tristan-Akkord steckt. Wenn man dieser Musik verfällt, dann für immer – etwas, was andere Opern in dieser Form vielleicht gar nicht auslösen können.
klassik-begeistert: Natürlich müssen wir über den berühmten Tristan-Akkord sprechen und die harmonische Undurchsichtigkeit, die er besitzt. Bis heute arbeiten sich Musikwissenschaftler und Komponisten daran ab. Als normaler Operngast oder Laie im Saal hört man das auch unmittelbar, das klingt seltsam angespannt, vielleicht sogar schief, erwartungsvoll, überschäumend – was macht dieser Akkord mit einem?
Christoph Gedschold: Ich finde diese Diskussion ehrlich gesagt falsch. Natürlich ist es der Akkord, aber es ist vor allem seine Verbindung. Wir können jetzt gerne über diese vier Töne sprechen, doch diesen Akkord haben auch schon andere verwendet, zum Beispiel Bach oder Chopin. Das Einzigartige entsteht durch die Töne drumherum. Wenn es da aus dem Nichts losgeht in den Celli, kommt dieser Akkord und löst sich sozusagen auf, aber gleichzeitig eben doch nicht. Es bleibt immer etwas in der Schwebe. Mit den dazukomponierten, langen Pausen, wiederholt sich das Ganze in verschiedenen Varianten – die Spannung wird die ganze Zeit gehalten, es bleibt immer offen.
klassik-begeistert: Die Sehnsucht, die da zum Ausdruck kommt, liegt ja auch an diesen konstanten musikalischen Steigerungen, diesen leidenschaftlichen Wiederholungen. Sie haben ja auch schon Wagners Frühwerke dirigiert. Er selbst sprach in Bezug auf die späten Werke dann von der „unendlichen Melodie“ – und auch diese Neuerung hört man, nicht wahr?
Christoph Gedschold: Ja, natürlich! Das ist Wagners großer Verdienst. Obwohl ich es auch wieder faszinierend finde, wenn man sich zum Beispiel den zweiten Satz aus Berlioz’ „Roméo et Juliette“ anhört – da hört man, wo er das her hat. Wagner war in meinen Augen der genialste Schwamm, der alles aufgesogen hat, was musikgeschichtlich vor ihm passiert ist, doch es in seiner Genialität so umgewandelt hat, dass er daraus etwas Neues erschaffen hat. Er wollte ja, dass diese Dramen „durchgehen“, deswegen hat er zum Beispiel keine Arien in dem Sinne mehr geschrieben, sondern versucht, das Ganze durch die Motivik und Harmonik zu einem Handlungsstrang zu formen.
klassik-begeistert: Man könnte endlos darüber sprechen, inwiefern diese Oper musikalisches Neuland erkundet hat. Das sieht man ja auch in der Aufführungsgeschichte. Über Karlsruhe, Wien, Dresden und Weimar scheiterten vorerst alle Versuche, das Werk aufzuführen. Wenn Sie es dirigieren und proben, sehen Sie dann, warum? Woran kann das gelegen haben?
Christoph Gedschold: Man muss das ein bisschen trennen. Auf der einen Seite ist da die ungeheure Belastung für die Sänger. Das sind absolute Höchstleistungen für die Stimme und das Gehirn. Alleine, was die Isolde schon im ersten Akt zu singen hat, oder was Tristan im dritten Akt zu singen hat, das ist der Wahnsinn. Das ist nicht nur unfassbar viel, sondern auch jedes Mal ein bisschen variiert, zum Beispiel wenn Isolde im ersten Akt die Vorgeschichte rund um das Schwert erzählt. Es ist eine Gedächtnisleistung für die Sänger, die wirklich ihresgleichen sucht. Auf der anderen Seite ist es spieltechnisch für das Orchester unglaublich schwer. Für die Streicher ist es absolutes Neuland, intonatorisch ist es sehr anfällig für die Holzbläser. Es ist für jeden einzelnen Musiker eine Herausforderung. Natürlich haben solche Werke auch den technischen Standard der Musiker hochgesetzt. Genauso wie die Opern von Richard Strauss für Orchestermusiker unter anderem die höchste Herausforderung spieltechnischer Art sind, war der „Tristan“ etwas komplett Neues.
klassik-begeistert: Es ist wahrscheinlich unmöglich, sich so einem Werk ohne große Ehrfurcht zu nähern. Was war Ihr erster Berührungspunkt mit dieser Oper? Was für eine Geschichte verbindet Sie mit dem Werk?
Christoph Gedschold: Der „Tristan“ ist für jeden jungen Dirigenten ein Traum. Es ist nunmal eines der berühmtesten Werke der Musik, die je geschrieben wurden. Jeder, der mit Musik ein bisschen in Verbindung kommt, ist irgendwann damit konfrontiert. Ich habe mich während des Studiums intensiv mit der Oper beschäftigt, hatte die Böhm-Windgassen-Nilsson-Aufnahme, die ich sehr lange gehört habe. Als Dirigent bin ich dann lange an diesem Stück vorbeigeschwommen, es kam nicht in meine Gefilden. Als jetzt klar war, dass ich den „Tristan“ machen würde, bin ich natürlich mit sehr viel Ehrfurcht und viel Respekt an das Stück herangegangen. Natürlich habe ich mich dieser Partitur auch mit ein bisschen Angst genähert – „Angst“, na ja, Sie wissen, was ich meine. Man wird da wie in einen Strudel hineingezogen und man muss sich aus ihm auch immer wieder herausziehen, gerade was die Fieberträume im dritten Akt angeht. Das geht einem schon tief in die Seele hinein.
klassik-begeistert: Ihr Kollege Christian Thielemann meinte mal, es ist wie mit einem Tiger zu kämpfen. Wie geht man da ran? Setzen Sie darauf, sich kopfüber in die Musik hinein zu stürzen und in der berauschenden Kraft des Stücks auch unterzugehen, oder versuchen Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren, die Kontrolle zu behalten?
Christoph Gedschold: Als Dirigent ist man in einer gewissen Form der Motor der Aufführung. Ich glaube, wenn man sich in dieses Stück emotional völlig hinein begibt, dann passieren solche Sachen wie Herrn Mottl oder Keilberth. Also, (lacht) wir können gerne nach den Aufführungen nochmal reden. Ich will nicht sagen, dass man da emotionslos herangehen sollte, aber man darf sich schwerlich völlig hingeben. Ob es mir bei dem Orchester gelingen wird, mich da kühl zu verhalten, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich muss sehen, wie mich die Musik in dem Moment trägt, wann man dann auch den kühlen Kopf einschalten muss. Und selbst Thielemann sagte mal, wenn er zum Pult geht, wird er eiskalt.
klassik-begeistert: Sie sind der Motor der Aufführung und der darf auch nicht überhitzen.
Christoph Gedschold: Genau. Ich muss alles sicher ans Ziel bringen.
klassik-begeistert: Kommen wir noch einmal zur Handlung des Werks. Die Geschichte ist ja so schlicht wie grenzenlos – Tristan liebt Isolde, Isolde liebt Tristan. Wagner selbst bezeichnet das Werk auch nicht mehr als „romantische Oper“ wie in den Frühwerken, auch kein „Bühnenfestspiel“ wie im Ring, nein, er nennt es „Handlung“. Da hört man ja schon, dass es hier anders vor sich geht. Was ist das für eine Oper, worum geht es hier eigentlich? Ist es eine einfache Liebesgeschichte?
Christoph Gedschold: Ich glaube, dass es vor allen Dingen eine Philosophie über das Leben und die Liebe ist, auch durch die Verbindung mit Schopenhauer und der „Welt als Wille und Vorstellung“ – die Aussage, dass man nur auf der anderen Seite die wahre Liebe wirklich finden kann, wenn die Seele den Körper verlassen hat. Das Mystische – das Mythologische ist hier vielleicht nicht so stark ausgeprägt – das Mystische liegt auch in der Frage: Was kann Menschen dazu bringen, ihre Gefühle wirklich zu spüren? Gerade damals war es natürlich häufiger so, dass Menschen sich Empfindungen verboten, weil es nicht der Sitte entsprach. Wie das Ganze dann zwischen den Beiden gelebt wird, ist ja auch schon wieder der Umschlag auf die andere Seite (lacht). Natürlich verbindet sich das auch mit dieser Todessehnsucht, die der Tristan von Anfang an spürt. Man kann über diese Philosophie jedes Mal neu nachdenken – vielleicht auch darüber, das Leben wirklich zu leben und sich nicht den Vorschriften des „das hat man so zu machen“ hinzugeben.
klassik-begeistert: Weil Sie auf Schopenhauer zu sprechen gekommen sind: Die Oper spielt ja ein interessantes Spiel mit einem. Man fragt sich: werden die Beiden am Ende von der Liebe erlöst, oder nicht vielmehr durch die Liebe?
Christoph Gedschold: Durch, auf jeden Fall.
klassik-begeistert: Richard Strauss hat ja darauf hingewiesen – wenn wir über die Erlösung durch Liebe sprechen – dass im Schlussakkord, in dem der Tristan-Akkord in ein H-Dur aufgelöst wird, das Englischhorn fehlt. Laut Strauss ist das die Bestätigung, dass das „Gift“ jetzt „raus“ ist. Sehen Sie das also auch so?
Christoph Gedschold: Absolut. (kurze Pause) Richard Strauss kann man einfach nicht widersprechen. (lacht) Nein, es ist wirklich faszinierend, wenn man die letzte Partiturseite anguckt: jeder spielt, nur das Englischhorn nicht. Ich glaube, dass da eine sehr große Symbolik drin steckt. Die großen Komponisten haben immer mit sehr viel Symbolik gearbeitet – das ist eine davon.
klassik-begeistert: Was passiert eigentlich in dieser letzten großen Szene, dem „Liebestod“? Ist es überhaupt ein Liebestod, oder vielmehr, wie Wagner selbst meinte, „Isoldes Verklärung“? Sie singt: „ertrinken, versinken — unbewusst — höchste Lust!“ Ist das eine Erlösung, die wir hören? Im Libretto ist von den „Leichen der Beiden“ die Rede, doch Sie sagen, dass die Musik uns etwas Anderes erzählt.
Christoph Gedschold: Ich bin mir ganz sicher, dass Isolde zum Schluss auch stirbt und zu Tristan geht, aber im Sinne davon, dass beide jetzt in einer anderen Welt sind und ihre Liebe weiterleben können. Das ist die „Verklärung“.
klassik-begeistert: Und die Musik erzählt das alles. Marcel Reich-Ranicki meinte ja mal, man müsse den „Tristan“ gar nicht inszenieren, weil die Musik die Hauptfigur ist.
Christoph Gedschold: Das ist eigentlich bei jeder Wagner-Oper so. Das Faszinierende an ihnen ist ja Folgendes: wenn man den Text genau kennt, hört man, wie nah die Musik am Text komponiert ist, wie regelrecht bildhaft sie ist. Man braucht da nichts Visuelles. Der Text und die Musik sind so stark, dass sie ausreichen.
klassik-begeistert: Falls ich Ihnen zum Schluss noch eine persönliche Frage stellen darf: Haben Sie eine Lieblingsstelle in der Oper?
Christoph Gedschold: Ich habe einige, doch am meisten berührt mich immer die Stelle, an der Tristan „Ach Isolde! Isolde! Wie schön bist du!“, singt. Das ist einer der letzten Fieberträume im dritten Akt, kurz bevor der Hirte kommt. Das berührt mich unter anderem immer am meisten.
Herr Gedschold, vielen Dank für das Gespräch!
Leander Bull, 2. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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