Düstere Seelenstürme bei Verdis Otello in Leipzig

Giuseppe Verdi, Otello   Oper Leipzig, 10. März 2023

Foto:© Ida Zenna, Iulia Maria Dan und Xavier Moreno als Desdemona und Otello

Gepaart mit einer aufrührerischen musikalischen Leitung gelingt der Neuinszenierung von Verdis vorletzter Oper in Leipzig der Kraftakt, dieses Meisterwerk ohne offensichtliche Aktualisierungen zu vergegenwärtigen und betörend zu psychologisieren. Der erste „Bravo“-Ruf zur Pause grätscht klanglich fast noch in den letzten Ton hinein – fürchterlich, wenn man diese große Musik angemessen ausklingen lassen möchte, aber dennoch nachvollziehbar.

Giuseppe Verdi
Otello
Dramma lirico in vier Akten | Libretto von Arrigo Boito,
nach der Tragödie »Othello« von William Shakespeare

Anna Skryleva, Dirigentin
Gewandhausorchester Leipzig

Monique Wagemakers, Regie
Dirk Becker, Bühnenbild

 Oper Leipzig, 10. März 2023

von Leander Bull

Bereits in den anfänglichen dreißig Sekunden nach dem ersten Schwung des Taktstocks werden alle Stärken des neuen Otello an der Oper Leipzig offensichtlich: Verdis reife Musik, stürmisch und feinfühlig zugleich; ein Dirigat, welches das Orchester bis in die kräftigsten Höhen hinaufsteigen lässt ohne grob zu werden; eine Inszenierung, die mit der Musik arbeitet, und doch darüber hinausgeht. Wer hier den Verdi-Regelbetrieb erwartet, der nochmal in der Mottenkiste kramt, wird enttäuscht werden – zum Glück.

Monique Wagemakers © Oper Leipzig

Minimalistisch arbeitet Monique Wagemakers den Stoff  n ihrer Inszenierung psychologisch aufs Feinste hinaus, wobei die gedanklichen Videoprojektionen im finster leeren Raum der Bühne die seelische Innerlichkeit dieser Interpretation noch verstärken. Besagte Sparsamkeit dämmt die Oper in ihrer lebendigen Naturgewalt jedoch keinesfalls ein, vielmehr vermag sie es, der Musik Platz zu geben und sich mit zeitlosen, fast mythologischen Bildern ihrem Inhalt zu nähern.

Anna Skryleva © Oper Leipzig

Nie läuft dieser Ansatz in die Leere, und das nicht nur dank Anna Skrylevas aufbrausender musikalischer Leitung. In Arrigo Boitos Verarbeitung Shakespeares, als Libretto für Verdi verfasst, ist Otellos Geliebte Desdemona bereits das hintergründige Zentrum aller Intrigen. Ihre Schönheit, eine Obsession fast aller männlicher Figuren, wirkt wie Öl für das Feuer des Neides, das in der Handlung allgegenwärtig ist.

Genau diesen Geschlechterkampf fixiert die Regisseurin mit großem Scharfsinn, ohne jedoch gegen die Musik zu arbeiten. Immer nimmt sie ihre Impulse von Verdi selbst, um diese dann weiterzuführen, so wird beispielsweise das gestohlene Tuch, Ursprung allen Übels, zum großen Symbol verwandelt, hier blutbefleckt, sodass vieles im Interpretationshorizont des Werkes auftaucht. Heirat, Frauenmord, Hochzeitsnacht werden hier allesamt beschworen, ohne jedoch plump eine Botschaft mit dem Vorschlaghammer einprügeln zu wollen. Die Inszenierung arbeitet zeitlos und regt doch an, gibt Impulse, die vom Werk kommen und über es hinaus führen, überraschend versöhnlich und durchgängig anregend zugleich!

Hrachuhí Bassénz © Oper Leipzig

Neben der sichtbar gemachten, vermeintlich hintergründigen Desdemona, welche gerade in ihren Höhen so umwerfend wachsweich, himmlisch zart und doch lebhaft von Hrachuhí Bassénz gesungen wird, gibt es noch einen heimlichen Star des Abends: Vladislav Sulimsky als antagonistischer Intrigenschmied Jago. Verdi selbst hatte Probleme mit der Entscheidung, ob seine Oper nun Otello oder Jago heißen sollte, eine Schwierigkeit, die man spätestens nach diesem Abend nachvollziehen kann.

Vladislav Sulimsky © Oper Leipzig

Sein hinterlistiger Bariton, finstere stimmliche Brillanz und wahrhaftig bitterböses Schauspiel, das nicht unerwähnt bleiben soll, vereinigen sich hier zu einem unvergesslichen Auftritt. Dieser Schurke, beherrscht vom „grünäugigen Monster“ (Shakespeare) namens Neid, fesselt die Operngänger über den gesamten Abend hinweg.  Ebenfalls passend dazu, dass die Figur des Otello selbst hier inszenatorisch als verstörtes,  selbstzerstörerisches Kriegsopfer im Kern machtlos gezeichnet wird und von Xavier Moreno unerheblich schlicht gesungen wird.

Xavier Moreno © Oper Leipzig

Die Nebenrollen sind durchgängig stark besetzt, vor allem hervorzuheben sind Álvaro Zambrano als Rodrigo und Kwangmin Seo als Herold. Der einzige Abstrich, der sich finden lässt, ist, dass das von Anna Skryleva furios geleitete Gewandhausorchester hauptsächlich in den umwerfend stürmischen Szenen punktet und zarte Szenen darunter leiden. Das Liebesduett am Ende des ersten Aktes beispielsweise hätte um Einiges feinfühliger sein können. Dennoch: die Musik rührt, betört, verliert trotz ihrer ungezügelten Aufruhr nie die Balance und dringt unmittelbar bis zur Seele durch!

Zutiefst düster, urgewaltig stürmisch, psychologisch intrigant und intelligent verzwickt ist dieser Abend an der Oper Leipzig, der nur höchst zu empfehlen ist, für opernhungrige Neulinge und Kenner, die dem Werk Neues abgewinnen wollen zugleich. Die Schönheit Verdis braucht Platz – dass dieser Raum für sie geboten wird und zugleich auch noch anregend etwas Neues erzählt werden kann, ist nicht nur selten, sondern eine ganz große Freude.

Leander Bull, 11. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Der kleine Prinz, Ballett von Bryan Arias Oper Leipzig, 04. März 2023, Premiere

Leipziger Wagner-Festival WAGNER 22 Teil 2 Oper Leipzig 26. Juni – 14. Juli 2022

Wiener Staatsoper: Giuseppe Verdi, Otello, klassik-begeistert.de

Giuseppe Verdi, Otello Nationaltheater München, Münchner Opernfestspiele, 21. Juli 2021

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