Víkingur Ólafsson führt meditativ durch Bachs Goldberg-Variationen

Goldberg-Variationen, Johann Sebastian Bach, Víkingur Ólafsson, Pianist  Wiener Konzerthaus, 4. November 2023

Víkingur Ólafsson © Ari Magg

Alle Wiederholungen – das bedeutet bei den Goldberg-Variationen: Sitzfleisch ist notwendig. Nach knapp 1 Stunde und 25 Minuten setzt Víkingur Ólafsson den Schlusspunkt. Das Publikum zollt tiefsten Respekt. Standing Ovations im Großen Saal des Wiener Konzerthauses, das bis zum letzten Platz ausverkauft ist. Zum zweiten Mal innerhalb zweier Tage. Bereits am Vorabend hatte der isländische Pianist das Haus gefüllt. Aufgrund der großen Nachfrage hatten die Verantwortlichen vor wenigen Wochen einen Folgetermin angesetzt – Resultat: beide Abende ausverkauft!

Goldberg-Variationen, Johann Sebastian Bach

Víkingur Ólafsson, Pianist

Wiener Konzerthaus, 4. November 2023

von Jürgen Pathy

Wer das schafft, muss was drauf haben. Víkingur Ólafsson heißt der Kerl. Wo seine Wurzeln liegen, ist bei diesem Namen ebenso nicht zu verheimlichen. Aus dem hohen Norden, aus Reykjavík, der isländischen Hauptstadt, stammt der Pianist, der meine Wege bislang nicht gekreuzt hat. 39 Jahre alt, schlank, Hornbrille, Anzug in einer Farbe. Für Blau hat er sich an diesem Abend entschieden, in Grün war er am Vorabend aufgetreten. Die Optik: Unscheinbar, a little bit Dandy, mit Hang zum Buchhalter. Als Jurist würde er optisch definitiv ein gutes Bild abgeben. Musikalisch wirkt er ähnlich.

Gleich vorweg: Was der Isländer praktiziert, ist weit entfernt von Lang Lang, Pierre-Laurent Aimard oder anderen, von denen mir die Goldberg-Variationen im Ohr sitzen. Glenn Gould, an dessen Eigensinn richtet er sich genauso wenig. Der hatte in seiner 1955er-Einspielung neue Maßstäbe gesetzt. Vollgas, Auffallen um jeden Preis. „The kid was a wild genius, there is no question about it. But when I hear his Bach, I am not aware that I am listening to Bach“, hat der Pianist Seymour Bernstein über Goulds Interpretationen etwas abwertend geurteilt. Das kann man von Ólafsson auf keinen Fall behaupten.

Die schnellen Variationen wie im Flug, die langsamen teilweise ausgedehnt bis in alle Ewigkeit. Bis dahin schlägt Ólafsson noch in dieselbe Kerbe wie Gould, der 1981 eine weitaus ruhigere zweite Einspielung hat folgen lassen. Betrachtet man Ólafssons Anschlag, eine komplett andere Welt. Weich, rund, mit einer enormen Sorgfalt behandelt er diese Aria mit 30 Variationen, die Johann Sebastian Bach als „Klavierübung“ notiert hat. Ein übler Scherz, weiß jeder Pianist, der sich der Aufgabe gestellt hat, diesen Achttausender zu bewältigen. Über 20 Jahre hat Ólafsson sich Zeit gelassen. Im Oktober 2023 eine Aufnahme bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht, inklusive anschließender Tournee. Das Resultat: Fließend, wie aus einem Guss, ein Hang zum Impressionismus, der jegliche Überempfindsamkeit meidet.

„So muss das klingen“, lobt mein Sitznachbar, der zu Beginn noch den Verdacht gehegt hat: „Ein Isländer – der wird sicherlich keinen klassischen Ansatz finden“! Weit gefehlt: Wem bewusst ist, dass Bach die Goldberg-Variationen für das Cembalo geschrieben hat, erkennt Ólafssons Versuch, dem Klang dieses Instruments gerecht zu werden. Auf einem modernen Steinway-Flügel eine Herausforderung. Ólafsson schafft das.

Die Bassstimme, das einzige, woran sich alle Variationen orientieren, in der linken Hand immer latent präsent, niemals donnernd. Die rechte Hand immer weich im Fluss. Beides enorm ausgeglichen. Dazu noch alle Wiederholungen. AA-BB, heißt das kurzum bei allen 30 Variationen. Das kann natürlich dauern. Wer müde ist, und seine Gage im Blindflug einstreichen möchte, könnte es bei A-B belassen. Ein Affront, den kein Pianist von Weltrang im Konzertaal wagt. Vor allem nicht, wenn er kein weiteres Werk aufs Programm setzt wie Ólafsson, der zum Ende einige Worte ans Publikum richtet. An die Goldberg Variationen, könne er keine Zugabe setzen. Genug, sei letztendlich gesagt. Dem kann man sich nur anschließen.

Nach einer geführten Meditation, bei der einige Variationen bis an die Grenze der Geduld führen, nicht notwendig. Ein klares statement hat Ólafsson zuvor gesetzt. Weg von den exzentrischen Interpretationen eines Glenn Gould, der mit seiner dynamischen Eigenart des Anschlags bis heute noch die Massen hinter sich zu scharren weiß. Weg von den Eigenheiten eines Lang Lang, an dessen überbordender Romantisierung sich die Geister scheiden. Stattdessen Klarheit, meditative Gleichförmigkeit und die absolute Befreiung von Bachs opus magnum von jeglicher Verschnörkelung. Muss man das mögen? Nein! Muss man Ólafssons Interpretationen respektieren? Auf alle Fälle! Angesichts der technischen Bravour und der Rücksicht auf den Ursprung dieser Komposition, muss man alle nur erdenklichen Hüte ziehen.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Tschechische Philharmonie, Víkingur Ólafsson, Klavier, Semyon Bychkov, Dirigent Kölner Philharmonie, 24. Oktober 2022

Concertgebouworkest Víkingur Ólafsson, Klavier, Martin Fröst, Klarinette, Alain Altinoglu, Dirigent Essen, Philharmonie, 10. September 2022

Víkungur Ólafsson, Claude Debussy, Jean-Philippe Rameau, CD-Besprechung

Sommereggers Klassikwelt 152: Glenn Gould klassik-begeistert.de 21. September 2022

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