Klaas Stok © Hans van der Woerd
Wenn ein Konzert von „Spinnern“ wie mir die Spinnweben und Seelen-Spinnen aus dem Großhirn fegen kann, und ENDLICH wieder Glückshormone ausgeschüttet werden, so ist das heute Abend wirklich ein ganz persönlicher Fall von fortune!
»SINGING!«
NDR Vokalensemble
Kammerchor der HfMT
Leitung Klaas Stok
Laiensänger
Elbphilharmonie, 11. November 2023
von Harald Nicolas Stazol
Ungezählte Sänger! Manche weit hergereist, es bedarf eines Aufnahmeformulars online, es wird einmal geprobt, und dann hat man das Gefühl, dass Klaas Stok, der Dirigent dieses Massenchores, in etwa das Talent eines Duke of Wellington haben muss, ganze Regimenter beherrschend, eine Dame sagt im NDR, sie käme aus der Schweiz.
Und so gibt „Singin’ 2023“ – das muss man sich mal vorstellen – einer Vorstellung Raum, die, da ich sie spätabends einem Freunde berichte, Nils, dem Chef des RIAA Clubs in Altona, sagen lässt: „Mann, das ist doch toll, dass die singen!“
UND WIE TOLL SIE SINGEN!
Musik muss unter die Menschen, und ja, es ist naturgemäß ausverkauft, und ich wundere mich noch, warum so viele in den Foyers in schwarz oder gedeckter Farbe sich umwandeln, da denke ich noch, das NDR Vokalensemble und eben Maestro Stok ließe seinen Stock nur einigen wenigen Solisten anvertrauen wollen.
Stattdessen: Sänger allüberall, Sänger ohne Zahl.
Ein ganzer Saal erhebt sich und singt. Formvollendet.
Doch wir greifen vor.
Wenn ein Konzert von „Spinnern“ wie mir die Spinnweben und Seelen-Spinnen aus dem Großhirn fegen kann, und ENDLICH wieder Glückshormone ausgeschüttet werden, so ist das heute Abend wirklich ein ganz persönlicher Fall von fortune!
Gerade noch hat man mir mein Ticket sozusagen an den Ausgang vor der Abendkasse ganz nach vorn zum Ende des Tunnels gebracht – endlich sah ich Licht – von solch zuvorkommender Höflichkeit kann das Personal der Philharmonie sein! – und langsam, langsam stellt sich Vorfreude ein:
Denn Komponisten, Künstlern und kleinen Konzertkritikern ist eines gemein: Sie können zur Schwermut neigen, wenn die Tage dunkler werden, das Herz gebrochen ist und das Dasein einem über, winterliche Einsamkeit dräut, etc. etc. pp. – Sie verstehen? Ernest Hemingway sagte einmal „Intelligenz und Unglück gehen Hand in Hand“…
Und so will ich noch nachmittags absagen, auch der lieben, russischen Musiklehrerin Oksana, weil ich vor Weltschmerz und Kriegsverzweiflung mich zu schwach fühle, dieser Samstag hat es wirklich in sich – und da schüttele ich mich nach drei Tagen erstmals endlich schon vor Lachen, denn auch ein Chor kann witzig sein, und ich bin froh, mich doch in den Hamburger Crystal Palace geschleppt zu haben, nun:
Ich schüttele mich vor Lachen, und das in der Elphi, da hat das NDR Vokalensemble die Komposition des Jake Runestad intoniert, „Nyon, Nyon“, eine Art lautmalerische, harmonisch-chorisch-dissonante Ruferei samt Fußstampfen, ganz toll. Wäre da nicht mein Sitznachbar, der im grauen Anzug und nackten Füßen in Birkenstocks nun auch noch meine Zweitbesetzung ist, und Michele, den Anwalt ersetzt, weil der wiederum fünf Minuten vorher absagt, wirklich, gefühlte Sekunden, bevor dieser wunderbare Chorleiter Klaas Stok (wir erinnern uns an die grandiose Vorstellung in St. Nicolai am Klosterstern? ) anhebt, und plötzlich der ganze Saal, das gesamte Parkett wie ein Mann aufsteht, die Frauen natürlich auch, mit Notenheften, nun wirklich ein Chor der Tausend…
So habe ich mir immer die Birmingham Premiere von Antonín Dvořák vorgestellt, seine „Geisterbraut“, die er nach Anreise auf das Beste vorbereitet sieht am Vorabend, mit eben einem tausend-stimmigen Chor – und jetzt erst begreife ich, was es mit diesem „Singing! 2023“ Programm gerade auf sich hat, da man sich doch vorher als Gastsänger anmelden durfte, „in kürzester Zeit einstudiert“ sagt mir der fast Barfüßige – ich kann mir nicht verkneifen, mich mit „ist Ihnen nicht kalt“ nach seinem Geisteszustand zu erkundigen, „nein, das ist Lammfell“ – nun egal, da steht nun also das gesamte, untere Elphirund, und Stok, hat sein Pult jetzt umgedreht und wirbelt los und die Laien statt hinter sich nun vor sich, und diese können sich nun WIRKLICH hören lassen!
Und welche Juwelen da gerade gegeben werden: Samuel Barber, Aaron Copland, Leonard Bernstein – die Fülle der Tondichter macht es schwierig, den Überblick zu wahren: doch da ist ja der Maestro, der kurz in die Werke einführt.
Mit Alleluja von Randall Thompson beginnt der bunte Reigen durch die Chormusik des 20. Jahrhunderts, mitreißend und in vollem, schönen Ton, „O Magnum Mysterium“ von Morten Lauridsen folgt, und es ist wirklich mysteriös, wie der Mann am rotierenden Pult seine Legion an Sängern unter Kontrolle hat…
„Über die Maszen anrührend“ schreibe ich noch nachts an den PR-Chef des NDR, aber auch aufrührend wie drei der Vier Motetten des Aaron Copland etwa, das „Help Us, oh Lord“ kann man zur Hymne der Tage machen, und so legt sich nun eine andächtige Gottesfurcht über den Saal.
Wenn das ein Laienchor ist, ja völlig zusammengewürfelt, ein Zufallsprodukt, mit dem SOLCHES möglich ist – der interessante Aspekt ja scheint mir, dass dieser Instant-Chor in dieser Kombination nur einmal zusammenkommt, was den Abend zu einer so gar nicht laienhaften Singularität werden lässt. Und dann das:
Tatsächlich ist der Eindruck derart überwältigend, dass ich, trotz aller Irritationen des Tages, ja, leider der Wochen, dass ich meine Aufmerksamkeit kaum den Musikstücken widme, sondern diesem großen Organismus an Musikern, dem jungbärtigen Organisten, der Harfenistin, die ja gleichsam nur einmal aufhuscht – und dann kommt Charles Ives, sein Psalm 100, ein einziger Lobpreis des HERRN, wieder ergreifend:
„Shout for joy to the LORD, all the earth. Worship the LORD with gladness; come before him with joyful songs.“
Ehret IHN mit frohlockenden Liedern.
Und dann die Jesuslatschen neben mir.
Und so sehr ich mich auf Lenny Bernstein freue, „Es heißt ja auch nicht Einstein“ witzelt Stok noch eingangs, – diese nahen Sandaletten geben mir heute den Rest!
Und ich muss es zu meiner Schande gestehen, aber ich bitte meinen Lieblings-Barmann in der Pause nur noch nach einem Glas Wasser, ein Schwächeanfall offenbar, mir beide treue Begleiter, der sagt „Harald, geh nach Hause“, und vor- und fürsichtig strebe ich leider und mich selbst bedauernd weit vor der Zeit die Kaskaden von Treppen hinab, wo selbst das Personal sich nach meinem Befinden erkundigt, und ich sage noch, „was für ein wunderbar musikalisch-demokratisch-freiheitlicher Abend, eine Symphonie der Tausend fast!“ und entschwinde.
Hierfür bitte ich den Leser – und die Direktionen – um Entschuldigung: Halbe Sachen sind nicht meine Art.
Ich werde in Zukunft mehr auf mich achten.
Die Chichester-Psalms werden famos gewesen sein!
Ich hätte sie WIRKLICH gerne gehört.
Harald Nicolas Stazol, 11. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klavierabend mit Marc-André Hamelin Elbphilharmonie, 12. November 2023
NDR Elbphilharmonie Orchester/Joshua Bell und Alan Gilbert Elbphilharmonie, 3. November 2023