Jane Eyre © Kiran West
Jane Eyre
Ballett von Cathy Marston
nach dem Roman von Charlotte Brontë
Staatsoper Hamburg, 3. Dezember 2023 Premiere
Uraufführung, Northern Ballet, 19. Mai 2016 – Deutschlandpremiere, Hamburg Ballett, 3. Dezember 2023
von Harald Nicolas Stazol
„Ich sehe, Sie schreiben Kritiken, – wie spricht sich das aus?“ fragt der ehrwürdig-graue Dandy mit den Pailletten-Slippern, gelbgoldener Cartier „Tank“ und dem Lapislazuli-blauen Siegelring neben mir, und jetzt geht es ans Eingemachte:
„Eyrrr-äe“ – „Eier?“ – „EY-rrr-äe! Sie müssen beim r mit Der Zunge unter den Gaumen…“ – „Eier!“ – „rrr“ „Eier?“ – „Genau! richtig!“ rette ich mich, – dann, ich schnappe nach Luft ,„Und wer ist das?“ – „Das versucht die englische Literaturwissenschaft seit 200 Jahren zu ergründen!“ – „Eier?“ – doch da beginnt zum Glück das Ballett, dessen Namen man nicht aussprechen kann – und dessen Bedeutung dieser Abend an der Hamburgischen Staatsoper sprichwörtlich lassen werden wird, vorausgesetzt, hier und heute Abend begreift das noch jemand außer mir und John Neumeier.
Das verschnarchte Hamburger Publikum – kein einziger Zwischenapplaus, da können die Pas-de-deux so himmlisch sein, die Corps de Ballett leisten was sie wollen, glänzend-flaumfeder-leicht die Titelheldin Ida Praetorius, kraftvoll-elegant der Immergeliebte Rochester (Handlung folgt!), des überragenden Karen Azatyan, da kann man das viktorianisch-romantische Liebeskonzept einmal hautnah nachvollziehen!
Doch vom Publikum kein Mucks. Mein „Bravi“- Ruf bleibt der eines Rufers in der Wüste – aber halt: – nun, unter den Höchsten der Haute Volée des heutigen Abends, die noch zu sezieren ist, ist einer, der laut schnarcht. Schnarcht, SCHNARCHT! Schon bevor die Strahler die Bühne erhellen, stabil atmend, molto forte, sotto voce, da kann im Orchestergraben und auf der Bühne los sein was will – sowas habe ich ECHT noch nicht erlebt, verzweifelt frage ich im Pausenfoyer, „Haben Sie den Schnarcher gehört?“ – „Schön, ja, doch wirklich schön!“ lautet die Antwort, wirklich Sinnvolles erlausche ich nicht im durch die erlauchte Gesellschaft flanieren… Aber keine Sorge, auf den Schnarcher ist Verlaß?! – denn danach geht’s munter weitersägen, und ja, jetzt fühl’ ich mich selbst schon ein wenig wie „Jane Eyre“, doch halt! Wer ist das? Dazu kommen wir noch!
Nichts Konservativeres gibt es, als eine Hamburger Ballettpremiere. „You are in, or you are out“ könnte man die dunkle Feierlichkeit nennen, das Stelldichein der Damen im Pelz und diese bleistiftdünnen 70erInnen, der Joan Collins Frisuren, den Düften von Arpège von Lanvin hier und Femme de Rochas dort, und allüberall Chanel No.5 – die Herren im Maßanzug und gedeckten Krawatten, blau oder schwarz oder schwarz oder blau, man sieht vom oberen Treppenabsatz die geschniegelten Elite-Zöglinge brav dem Gespräche der Großeltern lauschend – ganz im Gegensatz zur Elbphilharmonie: Ins Gespräch kommt man hier nicht.
Seien Sie versichert, man wird einfach übersehen, oder es liegt einfach an meinem immerhin gedecktem Irish-Tweed-Ensemble, das offenbar, Blick von oben nach unten, nur verziehen ist, weil man annimmt, ich käme direkt von meinen ostelbischen Latifundien – „Gibt es denn noch einen Empfang?“ frage ich noch, „Die Opernstiftung, ja, für geladene Gäste!“ – also ist mal wieder Party-Crashing angesagt… das Wunder aber: Ich kann die Hamburger Staatsoper um 17.30 MEZ für absolut Jeans-frei erklären!
Offenbar haben jedenfalls über die Perlen im Glas und am Hals und über die vorreservierten Lachshäppchen und Carpaccios alle vergessen, dass man eines Ballettes wegen hier ist.
Ich nicht.
Wer ist Jane Eyre? Die Antwort gibt soeben die englische Choreographin Cathy Marston – „Ich wurde völlig überraschend um ein Telefonat mit John Neumeier gebeten“ – na, und dieses Telefonat hätte man ja Homeland-Security-mäßig mal gerne mitgehört, diesen Talk am Roten Telefon der weltweiten Ballett-Welt!
Was immer da auch besprochen wurde – und ich danke hiermit jedem Glasfaserkabel unter dem Ärmelkanal – wenn dieser viktorianisch-romantisch-dramatische Abend die Folge davon ist, möchte man mal die Nummer von Neumeier haben!
Große, graue, haushoch-doch-bewegliche Marmorkolosse von Wänden sind dreifach gestaffelt einem Himmel über den Britischen Inseln rechts und links vorgehängt, die Farbigkeit des Hintergrund-Tableaus erinnert tatsächlich an William Turner und seine dunkleren oder nachts entstandenen Aquarelle, was dem Ganzen eine natürliche visuelle Tiefe gibt, wer hier englischen Landsitz erwartet hat, wird mit der Abstraktion eines gesamten Gesellschaftssystems konfrontiert werden, komplett mit zwei Ebenen, einer bewussten vorn, dem Grat des Unterbewussten und auch des Wahnsinns erhöht, und weit hinten, schemenhaft, Kulisse des getanzten Klassensystem eines Englands des 19. Jahrhunderts.
Charlotte Brontë schreibt hier auf, was ihr im Alltag begegnet – ihre Schilderungen aus den Waisen- und Armen- und Arbeitshäusern gehören zu den „darkest passages of English Language“ – und wir wollen nun versuchen, einen der bedeutendsten Romane der englischen Literaturgeschichte zusammenzuraffen:
Armes Waisenmädchen wird Gouvernante, liebt reichen Gutsherren, wird reiche Frau und findet nach Jahren zu inzwischen durch Landhaus-Abfacklung erblindeten Gutsherren zurück. Heirat. Gatte sieht plötzlich wieder. Happy End. Und dazwischen natürlich allerlei Irrungen und Wirrungen.
Wir sprachen ja schon vom Wahnsinn – nein, nicht der des ja gerade hier und jetzt immer noch vorherrschenden Klassensystems auf und eben auch vor der Bühne, 19. Jh. vs. 21. Jh. – nun, bis in die 1930er Jahre kann man sich im Empire nicht scheiden lassen, selbst wenn die eigene Ehefrau schlicht und einfach verrückt geworden ist.
Und so eine hat nämlich der Gutsherr, Rochester, na klar, geheim und weggesperrt, und, na klar, die geistert nicht nur nachts durchs Schloss und verletzt Schlafende, und erschreckt Jane Eyre, die Gouvernante, nein, sie wird auch zur Landhausabfacklerin!
Diese Szene soll mir unvergessen sein: Die ganze hintere Bühne, der erhöhte Laufbalken, flammt lichterloh samt dichtem Rauche vor und über und unter der Wahnsinnigen, einer irrsinnswütenden Ida Stempelman, derart kirre und manisch springend und wirrend und wirbelnd im zerfetzten Schwarz, Orange und Flammenrot, dass sie ihr Gatte, Rochester, noch einmal: KAREN AZATYAN!!! – vor den Flammen nicht retten kann – das Bühnenbild hat sogar den Thron des Lords zum angeschwärzten Gerippe umgewechselt, hinter ihm die Stempelman, vor ihm und darüber und daneben und neben sich selbst Azatyan, alles in Rauch und Flammen – kein Wunder, dass man die Szene des Hamburger Balletts online findet – es ist die Beste.
Denn in Mausgrau und selbst in den aquarelligen Farben der Damen, werktreu und epochengleich die Kostüme, mag sich zwar die Eintönigkeit der Schicksale von Waisen um 1880 traurig-monoton darstellen – die dunkelsten Stellen eben von Literatur und englischer Geschichte zugleich, und die Mausgrauen sind die „D-Men“ von unseren Besten, 10 an der Zahl, deren Pik-As-Leistung, völlig synchron bald, bald einzeln in schöner Spannung und hohem Bein, bald wieder als gar schröckliche Dämonen, nun wirklich eine artistische Augenweide sind, aber das liegt wohl auch am Auge des Betrachters.
Tatsächlich deutet die junge Choreographin Cathy Marston da eine Charlotte Brontë, wie sie mir nach etlichen gesehenen Verfilmungen ganz neu, und die dadurch bedeutsam, dass da jede Zeile des Romans zu einmal 55, einmal 44 wunderbaren Minuten zusammenschmilzt, zu einer zeitlosen Einheit aus Zeitgenössischem und der Atmosphäre der damaligen Zeit also, so ganz enthoben der echten Aufführungszeit, dass man eine Pause unter lauter Snobs nun wirklich eigentlich nicht braucht.
Lieber John, verehrte Mrs Marston: Schlage vor, künftig en suite zu spielen.
Die verwandten Musiken, die der harmonisch durchaus talentierte Philip Feeney in ein Mélée aus Schubert, Mendelssohn-Bartholdy, und der viktorianisch zeitgenössischen Komponistin Fanny Hensel neben eigener Komposition wandelt – sollte mit dem Teufel zugehen, wenn die Landhaus-Abfackel-Szene nicht von ihm ist! –, tragen und schmelzen ebenso ineinander, und das Hamburgische Staatsorchester entführt das Ganze in schöne Höhen, auch durch den rasanten Taktschlag des Nathan Brock, den man ja nur Sekundenbruchteile sieht, wenn sich die Hände blitzgleich über den Orchestergraben in die Höhe werfen!
Unkontrollierte Huster vom Volk davor in Schwarz. Kein Ansatz von Ovation zu Einzelleistungen. Ich sage ja, sie begreifen es nicht! Sie schnarchen! Schwarzblau.
So eindringlich sind die Bilder, die hängenden Betonstelen, einmal meterhoch die Projektion des Schattens einer Tänzerin, wie eine Vision in Orange und Schwarz – immer wieder stehen mir die Reihen an Handarbeiterinnen vor Augen, es ist, als läse ich noch einmal Oliver Twist.
Einziger Trost natürlich, eben wie der riesige Gazevorhang, der immer wieder einen Weichzeichner über die Bühne führt, Trost, dass allein die Schönheit und Grazie dieser ausgebeuteten Opfer des so verherrlichten mittleren Viktorianismus ja der ganzen Tragik ja beider Brontës in Ton und Sujet einen Weichzeichner gibt – dieses Ballett nun weichzeichnet eine ganze, unerbittlich-harte, recht eigentlich unbarmherzige Realität: Die der „Jane Eyre“. Dass diese in Glück aufgeht, ist die Leistung einer visionären Romantik viktorianischer Autorinnen. Ja, der AUTORINNEN.
Manch Mann sah das damals gar nicht gern: „Literatur kann nicht das Berufsfeld im Leben einer Frau sein, und das sollte es auch nicht. Je mehr sie mit ihren eigentlichen Pflichten beschäftigt ist, desto weniger Muße wird sie dafür haben, nicht einmal als Errungenschaft oder Erholung. Zu jenen Pflichten sind Sie noch nicht berufen, und wenn Sie es einmal sind, werden Sie weniger auf Berühmtheit aus sein. Sie werden dann nicht in ihrer Vorstellungskraft nach Erregung streben.“ Schreibt der „Poet Laureate“ – der höchst-ernannte Dichterfürst des Landes – Robert Southey am 12. März 1837 an Charlotte Brontë, die ihm am 29. Dezember 1836 – (vier Monate Warten auf Antwort! Poor, Poor Charlotte!) – ein eigenes Gedicht zur Beurteilung geschickt hatte. Tja, auch Dichterfürsten können falsch liegen!
Denn „Jane Eyre“ ist auch die Geschichte einer innigen Frauenfreundschaft, die auf der Bühne besonders anrührend inszeniert ist: Das Verhältnis der „engsten Beziehung, die Jane je hatte“, zu ebenjener Helen Burns, einer so fragil an Schwindsucht Sterbenden Greta Jörgens – sie stirbt in den Armen der Freundin, dass man feuchte Augen bekommt, allerliebst zuvor wird ja die Seelenverwandschaft der beiden Herzensgefährtinnen derart einfühlsam-eindringlich-elegant getanzt, dass man sich wünschte, solche Freundinnen zu haben.
So sind die grauen, hängenden Steinstelen des Patrick Kinmoth, der Bühnenbild und Kostüme ersann, riesige Quader, alles umrahmend oder im Weg stehend oder alles verbergend, die nun für manche Szenen bewegt werden, sie sind vielleicht auch ein Sinnbild der unüberwindbaren Klassengrenzen der Zeit – derselben, die auch (und immer noch) draußen im Foyer gelten. Und ganz draußen in der Schneekälte hält eine alte Frau den Raucherpausen-Gästen die Tür auf, die Obdachlosenzeitung „Hinz und Kunz“ in Händen.
Drinnen, im Hellen, Trockenen und Warmen, gut zu sehen von der Straße aus durch die großen Glasfenster der Oper: Weisser Marmor, Lachs und Grauburgunder.
Ach ja, fast vergessen, endlich, endlich und zu Recht: Jubel außer Rand und Band, und viereinhalb Vorhänge.
Sind sie doch noch aufgewacht.
Harald Nicolas Stazol, 5. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musik: Philip Feeney, Felix Mendelssohn Bartholdy, Fanny Hensel, Franz Schubert
Choreografie und Regie: Cathy Marston
Szenario: Cathy Marston, Patrick Kinmonth
Bühnenbild und Kostüme: Patrick Kinmonth
Lichtdesign: David Finn
Einstudierung: Daniel de Andrade, Christelle Horna, David Nixon, Matthew Topliss
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