Christian Thielemann © Terry Linke
Der Wagner-Gott Christian Thielemann kann auch Brahms, so viel kann diese beiden musikhistorischen Gegensätze also nicht trennen. Auch Igor Levit meistert das monumentale Klavierkonzert wie ein kleines, zartes Scherzo. Da muss selbst dieser Chef am Pult die Zügel abgeben…
Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann, Dirigent
Igor Levit, Klavier
Werke von Johannes Brahms
Musikverein Wien, 9. Dezember 2023
von Johannes Karl Fischer
Kein Betriebsgeheimnis: Außermusikalisch trennen Igor Levit und Christian Thielemann Welten. Mehr sei dazu nicht gesagt. Und auf der Bühne? Keine kleinste Spur einer einzigen Meinungsverschiedenheit. Pianist und Dirigent spielen wie ein Herz und eine Seele, als würden sie hier eine Sinfonie, eine Klaviersonate, ein Horn- und Cellokonzert alles gleichzeitig aufführen.
Moment… da klingeln doch glatt die Worte Eduard Hanslicks im Ohr? Richtig, als „Sinfonie mit obligatem Klavier“ soll der alt Wiener Musikkritiker Brahms’ zweites Klavierkonzert bezeichnet haben. So ein Schmarren. Thielemann lässt die Streicher zwar in kammermusikalischer Intimität mit zuckersüßen Glissandi verschmelzen, das Horn Solo strahlt wie auf einer grünmorgendlichen Alpenalm durch den Saal. Sattelfest hat er alles im Griff, für jeden Fehler gibt’s mindestens drei böse Blicke. Im dritten Satz scheint er kurz davor, Tamás Vargas Cello selbst in die Hand nehmen und noch die letzten Feinheiten seines rigiden Perfektionismus zu Gehör zu bringen. Thielemann at his finest. Er ist Chef und niemand anders.
Doch dann steht plötzlich ein Klaviersolo in der Partitur. Und der Chef am Pult lässt seinem Solisten alle Freiheiten dieser Konzertwelt. Igor Levit zögert nicht lang und nimmt sie mit Dank zur Hand, spielt jedes feinste Detail der monumentalen Eröffnungskadenz voll und ganz aus. Die ganze Energie seines Instruments strömt durch den Saal, aus dem Flügel holt er mehr Emotionen raus als andere KünstlerInnen aus einer ganzen Oper. Eigentlich wie Thielemann. Der lässt bei seinem Bruckner auch kein halbtaktiges Mini-Detail unter den Teppich kehren…
Auch das von Brahms scherzhaft als klein und zart bezeichnete Scherzo meistert Levit mit Bravour. Fast schon könnte man meinen, es würde hier ein zweites Orchester einsetzen, oder wieso lässt Brahms hier sonst Klavier und Begleitung Melodien tauschen? Egal, auch das Flötenecho im Schlusssatz nimmt Levit mit Chic – sorry, bin da schon ein wenig in Strauß’scher Neujahrskonzertstimmung – zur Kenntnis, wenn ihm das silberne Holzblasinstrument die sprunghafte Melodie zur Imitation am Klavier reicht. Als wäre das einstündige Hammerwerk wirklich nur ein kleines, zartes Klavierkonzert gewesen.
Einzig eine Zugabe gab es leider nicht… schade. Da hört man bei Levit doch öfters das eine oder andere interessante Kunstwerk.
Nach der Pause dann Brahms 3… die habe ich mit den Wiener Philharmonikern zuletzt 2014 unter Andris Nelsons gehört. Das war damals einfach verdammt gut, kann Thielemann da mithalten? Und wie erst!
Wie mit vollen Orgelpfeifen tönen die Öffnungsakkorde durch den Saal, Thielemann holt mit allem Einsatz die volle Passion aus der ersten Geigenmelodie heraus. Ein symphonischer Sog zieht durch den Saal, das hätte ich einer Brahms’schen Symphonie so nicht zugetraut. Ist das nicht eigentlich Wagner-Territorium?
Egal, gespielt werden ja Symphonien und keine Komponistennamen! Auf diesen fast schon überwältigenden Kopfsatz folgen zwei entspannte Sätze, die volle Klangfarbenpalette dieses Orchesters kommt ganz im wunderbaren Wiener Klangstil – samt all dessen instrumentalistischen Besonderheiten – zum Vorschein. Nicht zu tragisch, nicht zu dramatisch, genau das, was Brahms braucht. Als würde man in einem feinen niederösterreichischen Landlokal sitzen und nun ein gutes, leichtes Zwischengericht zwischen den deftigeren Gängen soupieren. Nur so kann man den stürmischen Schlusssatz richtig gut reinziehen. Thielemanns Gesamtkunstwerk ist vollendet.
Summa summarum: Der Wagner-Gott Christian Thielemann kann auch Brahms, so viel kann diese beiden musikhistorischen Gegensätze also doch nicht trennen. Das war ein einziges symphonisches Gesamtkunstwerk, wie man es eigentlich nur von Richard Strauss oder eventuell noch Anton Bruckner kennt!
Ganz nebenbei… erst vor kurzem habe ich mir von einem Streicher aus einem Hamburger Spitzenorchester sagen lassen „die Wiener Philharmoniker haben den weltschönsten Klang, aber sie spielen nie zusammen“. Bitte?
Da war keine einzige Note außer Takt mit der Orchesterseele, fast schon wie Kammermusik in Brucknerwürdiger Besetzung!
Johannes Karl Fischer, 10. Dezember 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Blu-ray-Rezension: Bruckner 11, Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann 9. September 2023
Igor Levit, Klavier Orchestre de Paris Konzerthaus Dortmund, 29. Mai 2022
Lieber Kollege,
dass Thielemann „Brahms kann“ ist keine Neuigkeit, Brahms zählt neben Wagner, Strauss, Beethoven, Bruckner und Pfitzner schon seit 20 Jahren zu den Göttern des Dirigenten. Ich erinnere mich nur an den fantastischen Brahms-Zyklus mit den Münchnern in Baden-Baden und zahlreiche grandiose Brahms-Requien, zuletzt diesen Sommer in Salzburg.
Beste Grüße von Kirsten