Dona Nobis Pacem (Foto: Kiran West)
5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil X
Wie wohl bei keiner anderen Balletttruppe auf der Welt sind Neumeiers Tänzerinnen und Tänzer in der Lage, ihre Gefühle in Tanz zu wandeln, in das Innere einer Person zu schlüpfen und deren Haut so lange zu dehnen und zu strecken, bis sie mit dieser Figur eins geworden sind.
von Dr. Ralf Wegner
Viele Neumeier-Ballette faszinieren von Anfang an. Es gibt aber auch solche, die erst mit der Zeit einen inneren Sog zum Wiedersehen entwickelten. Mit jedem neuen Sehen ziehen Neumeiers Choreographien tiefer in die Geschichte und in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein, wie die recht komplexe Artus Sage, Neumeiers Interpretation von Anton Tschechows Drama Die Möwe oder zuletzt das intime Kammerballett Ghost Light.
Neumeiers Ballette sind zudem psychologisch vielschichtig und lassen für den Betrachter oft mehrere Schlüsse zu. Beispiel Schwanensee, Neumeier erfindet einen Mann im Schatten. Symbolisiert er König Ludwigs verstörtes Ich? Ist es die sich von ihm abspaltende geistige Erkrankung? Oder lässt sich der Mann im Schatten als homoerotisches zweites Ich interpretieren, dem sich der König am Ende im letzten Pas de deux hingibt? Neumeier überlässt die Interpretation den Zuschauerinnen und Zuschauern.
Dabei gelten die von Neumeier choreographierten Soli und Pas de deux nicht allein der Erbauung des Publikums, etwa im Sinne einer zirzensischen Leistung, sondern dienen der psychologischen Vertiefung der Handlung. Und das gilt selbst für die von Marius Petipa oder Lew Iwanow übernommenen Schrittkombinationen. Wenn Elizabeth Loscavio im Schwanensee beim Grand Pas deux als Natalia im Schwanenkostüm auftritt, will sie mit ihrer tänzerischen Finesse den König für sich gewinnen. Denn sie hat erkannt, dass er in einer Traumwelt lebt. Gleiches gilt für den König, der für die seinen Traum lebende Natalia und nicht für die Umstehenden und schon gar nicht für das Publikum möglichst hoch und weit springt oder dreht.
Dabei sind die tänzerisch-technischen Anforderungen in Neumeiers Tschaikowsky-Balletten oder auch in Giselle nicht geringer als bei klassischen Aufführungen in den großen russischen Ballettzentren.
In seinen nicht auf klassische Ballette zurückgreifenden Werken choreographierte John Neumeier darüber hinaus eine Vielzahl herausragender Pas de deux, die von den vielschichtigen Beziehungen der jeweiligen Paare zeugen, wie u.a. im schwarze Pas de deux aus der Kameliendame, im Italien-Pas de deux aus Anna Karenina, beim Schlitten-Pas de deux in Nijinsky oder im unglaublich intensiven, hocherotischen Pas de deux aus Othello.
Wie wohl bei keiner anderen Balletttruppe auf der Welt sind Neumeiers Tänzerinnen und Tänzer in der Lage, ihre Gefühle in Tanz zu wandeln, in das Innere einer Person zu schlüpfen und deren Haut so lange zu dehnen und zu strecken, bis sie mit dieser Figur eins geworden sind. Und das ohne ihren ureigenen individuellen Ausdruck zu vernachlässigen.
Bei den früh etablierten Balletten wie Giselle oder Schwanensee wurden mit den Tänzen der Willis oder der Schwäne von Jules Perrot und Jean Coralli bzw. Marius Petipa und Lew Iwanow großartige Gruppentableaus für Tänzerinnen kreiert, die heute immer noch beeindrucken und sich auch in Neumeiers Choreographien wiederfinden. Neumeier hat darüber hinaus eindrucksvolle Ensembles für Tänzer geschaffen; erinnert sei nur an den ersten Satz der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler, an das Soldatenstakkato in Nijinsky oder das Arbeiterballett in Liliom. Das sind großartige choreographische Neuerfindungen, die immer wieder zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Überhaupt gelingt es Neumeier immer wieder, große Gruppen auf die Bühne zu führen, ohne dass diese, wie in vielen älteren Ballett-Aufführungen, statisch am Rande verharren, sondern aktiv am Geschehen teilnehmen. Auch das hat er schon in seinem Ballett Illusionen wie Schwanensee im ersten Akt exemplarisch gezeigt.
Neumeier lässt uns bei seinen Balletten nie mit Trauer zurück, er eröffnet uns immer einen tröstlichen Weg. Er überhöht das Ende seiner Ballette oft als Apotheose und streift dabei nie den Kitsch. So verklärt Neumeier König Ludwigs Tod im Schwanensee: Über ihm und dem mit ihm ringenden Mann im Schatten senkt sich ein riesiger blauer Vorhang herab und entzieht beide der diesseitigen Welt. Auch der Aufstieg der kleinen Meerjungfrau mit dem Dichter auf einer sich langsam hebenden Plattform hinauf zum Sternenzelt ist apotheotisch überhöht.
Dabei verfällt Neumeier nie dem tänzerischen Pomp. Gegen eine sich aufbäumende Musik minimiert er den tänzerischen Aufwand, und hinterlässt damit bei den Zuschauern eine tiefere Empfindung als ein musikanalog überbordendes Tanzgeschehen. Das betrifft den Schluss seines Schwanenseeballetts ebenso wie Mahlers 3. Sinfonie. Am augenfälligsten zeigt sich dieser Minimalismus bei seinem Ballett Romeo und Julia. Zu den geradezu rauschhaften Klängen der Prokofjew’schen Komposition läuft Julia auf der Suche nach Pater Lorenzo mehrfach über die Bühne, es findet kein Tanz mehr statt. Ihre der Musik entsprechend aufgewühlte Seele lässt Ballettschritte nicht mehr zu. Gerade das bleibt in Erinnerung.
In manchen Kommentaren wird deshalb von Vereinfachung der Choreographie gesprochen, um mit den Anforderungen der Partitur Schritt halten zu können. So ist es aber nicht. Neumeiers Tänzerinnen und Tänzer sind durchaus in der Lage, allen artistischen Ansprüchen zu genügen, wenngleich diese nicht im Vordergrund stehen. Deshalb ist auch der Vergleich mit bei YouTube eingestellten, technisch hochrangig dargebotenen Ballettszenen anderer Ensembles schwierig. Denn Neumeiers Choreographien leben von der psychologischen Dynamik und nicht primär von der Höhe oder der Weite der Sprünge. So sind die Drehungen und Sprünge mancher international hochberühmter Tänzerinnen und Tänzer in den kurzen im Internet einsehbaren Filmschnipseln durchaus begeisternd, während dieselben Protagonisten auf der Bühne aber oft nur sich selbst darstellen oder der Bühnenfigur kaum Leben einzuhauchen vermögen.
Mit Ausnahme des Komponierens hat John Neumeier fast immer erheblichen Einfluss auf die Bühnenausstattung, die Kostüme und die Beleuchtung genommen oder diese auch selbst entworfen. Und wenn er auf geniale Bühnenbildner wie Jürgen Rose zurückgriff, dann wegen der völligen Übereinstimmung mit seinen dramaturgischen Vorstellungen. Auch das machte immer den Reiz der Neumeier-Ballette aus. John Neumeiers Inszenierungen stellten sich nie, wie im modernen Regietheater häufig, gegen die Handlung, sondern unterstützten diese oder brachten sie in einen neuen, sinnfälligen Zusammenhang.
Das führt mich abschließend zu folgenden 9 Thesen:
- Neumeiers Choreographien sind nie plakativ, sie lassen mehrere Deutungen zu.
- Neumeiers Ballette gewinnen mit jedem neuen Sehen an Durchsicht, Tiefe und Kraft.
- Neumeier zeigt keine Akrobatik, sondern gibt den technisch anspruchsvollen Schritten psychologischen Sinn.
- Neumeier ist ein Meister der Apotheosen.
- Neumeiers Ballette berühren, ohne je auch nur die Nähe des Kitsches zu streifen.
- Neumeier ist ein Meister der Pas de deux.
- Neumeier ist ein Meister der Gruppen-Tableaus.
- Neumeier schafft mit seinen Balletten Gesamtkunstwerke.
- Neumeier setzt in seinen Tänzerinnen und Tänzern individuell-darstellerische Energien frei, die sich unmittelbar auf das Publikum übertragen.
Dr. Ralf Wegner, 23. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die letzte Folge „Durchgeistigt, schöpferisch und unberührbar: Das Genie John Neumeier schuf neue Welten in Hamburg“ erscheint am Freitag, 26. Januar 2024.
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024
5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII Staatsoper Hamburg, 12. Januar 2024
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII Staatsoper Hamburg, 16. Januar 2024
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IX Staatsoper Hamburg, 19. Januar 2024