Es kommt zu einem Synergismus, der einer Sängerin, einem Sänger besonders schmeichelt und eine ganz besondere Wirkung zeigt. Sie oder Er ist mehr oder minder aus einem Kollektiv herausgehoben oder von einer durchwachsenen Vorstellung entbunden. Lange waren wir unsicher, ob dieses Experiment anonym erfolgen soll, weil es sich ja nur um eine Auswahl weniger Künstler und Künstlerinnen handeln kann. Oder sollten wir diese nur mit Portraits oder Szenenfotos bringen? Es sind zum Teil Sänger und Sängerinnen, die nicht international im Rampenlicht stehen. Unsere Leser und Leserinnen kennen schon unsre Neigung für das Unauffälligere.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Wir zitieren aus unsren Aufzeichnungen und beginnen unsere acht Sträuße mit einem langjährigen Ensemblemitglied unsrer Wiener Staatsoper, mit der Altistin Zoryana Kushpler.
„Beispielgebend ist da als ‚zweite Geige‘ Zoryana Kushpler, die als Suzuki im wahrsten Sinn des Wortes in ihrer dienenden Rolle aufgeht und sie gleichzeitig mit Leben und Wohlklang ausfüllt.“ „Bei Zoryana Kushpler war die Vorfreude auf ihre Mutter Lucia schon groß und wir wurden von ihrer Härte und Strenge gepackt.“
„Antons leidende Mutter (Pünktchen und Anton, Iván Eröd) wird von Zoryana Kushpler rührend gestaltet. Sie legt die Rolle in Bescheidenheit an, ohne aufzutrumpfen.“
20. und 22. November 2012, Oper Basel, „Der Sandmann“ von Andrea Lorenzo Scartazzini, Textdichtung von Thomas Jonigk: „Seine Partnerin Clara (virtuell Clarissa), die in Malmö gebürtige, Lulu-erprobte Agneta Eichenholz, hatte zwar keine Koloraturen zu singen, dafür aber große Intervallsprünge zum hohen a´´ und darüber. Ihre Stimme besaß etwas Sehnsuchtsvolles. In der neunten Szene, Takt 6 sang sie bloß die eine Silbe ‚ja‘ mit einer berührenden Innigkeit. Ist hier eine Strauss-Sängerin im Werden?“ „Jetzt hat es geklappt. Agneta Eichenholz, die Freia Genfs, die Zdenka in Amsterdam und die Daphne der Oper Basel wurde ans Theater an der Wien engagiert und schlüpfte in die Rolle der grauen Maus mit Seele (Ellen Orford) in Brittens Oper „Peter Grimes“ über die Menschen am unberechenbaren Meer.
Seit der jungen Janowitz erlebten wir selten eine solche Innigkeit in der Stimme. Souverän führte sie das Damenquartett an. Dieser begnadeten Stimme gebührt eine verantwortliche Begleitung seitens der Operndirektionen und der musikalischen Leitungen. Unser persönlicher Neujahrswunsch wäre, dass Frau Eichenholz in Wien eine künstlerische Heimat fände.“ „Als wir nach der Aufführung die Stufen der Wiener Staatsoper hinuntergingen, hatten wir das glückliche Gefühl, Zeugen eines großen Opernabends geworden zu sein. Als vorher nach dem tragischen Schluss der Vorhang fiel und kurz darauf wieder aufging, stand die Sängerin der Lulu Agneta Eichenholz allein auf der weiten Bühne und herzlicher Beifall setzte ein. Sie besitzt sowohl eine tragende als auch eine in allen Lagen sehr schöne Stimme.
Die Berufung an die Wiener Staatsoper war ein Gewinn für das Haus.“ Unter dem Titel ‚Orlando: Welturaufführung einer Grand opéra an der Wiener Staatsoper‘ schrieben wir: „Orlandos erste große Liebe wurde die geheimnisvolle und kühle russische Fürstin, die er Sasha nennt. Sie wird von der Schwedin Agneta Eichenholz, einer hervorragenden Richard Strauss-Interpretin, gesungen. En vogue sind farbenreiche Stimmen. Ihr hoher Sopran besitzt weniger Farben, zeichnet sich dafür zur Rolle passend durch klare Schönheit aus.
Einige Szenen später hat sie in ihrer zweiten Partie in Gestalt der Keuschheit neben den Damen Reinheit und Bescheidenheit im Dreigesang souverän die führende Stimme inne.“
„Es freut uns, dass uns die in Tatarstan geborene Ilseyar Khayrullova bereits in der kleinen Rolle des in das schlaue Füchslein verliebten Dackels als Hoffnungsträgerin aufgefallen ist. Die Figur der Olga in Péter Eötvös’ Oper ‚Tri Sestri‘ erinnert an das Weinheber-Gedicht ‚Kammermusik‘, in dem die Zweite Geige von sich sagt: ‚Mir, neben lichterm Wesen, ist verwehrt ein Ich zu haben. Nicht die Welt – doch fester und wirklicher: Die Erd hat mich belehrt.
Dort dunkelt es, lass dich begleiten, Schwester.‘ Dass die älteste Schwester einer jungen und nicht schon einer arrivierten Sängerin anvertraut wird, ist eine begrüßungswerte künstlerische Herausforderung.“ Und an anderer Stelle: „Die weitere Laufbahn dieses wohlklingenden Alts erweckt unser besonderes Interesse.“
„Und dann tritt Apoll auf, als einfacher Rinderhirt, aber Andreas Schager ist eine Offenbarung. Kein distanziertes Hören mehr, eine Sternstunde beginnt, mitreißend sein Apoll durch Stimme und Ausstrahlung. Und Daphne / Claudia Barainsky wächst in der Begegnung mit diesem Partner. Aufgrund seiner eindrucksvollen Darstellung haben wir uns als Untertitel anstelle von ‚Bukolische Tragödie in einem Aufzug‘ ‚Schuld und Sühne des Apoll‘ gedacht.“
„Andreas Schager kam mit der intellektuellen Auffassung der Rolle des Max gut zurecht und wurde durch seine gesangliche Interpretation zum Sympathieträger. Wir freuen uns auf seinen Lohengrin.“ „Als Lohengrin vermittelte Andreas Schagers Tenor Klarheit und Reinheit, ideal für das Bild eines reinen Helden.“
In der Opernvision nach Rainer Maria Rilkes ‚Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‘ gibt der Komponist Siegfried Matthus den Gedanken der Personen oft eigene Stimmen ohne neben dem Wechselgesang als Monologe herüberzukommen. Die Gedankenstimme der Gräfin, mit welcher der Cornet seine erste Liebesnacht verbringt, sang im Linzer Landestheater Donna Ellen, die in der Folge an der Wiener Staatsoper ihre Heimat fand.
„Für die Frau des Försters und der Eule (im Schlauen Füchslein) wählte man die auf markante Nebenrollen spezialisierte Donna Ellen.“ „Einmal mehr machten wir bei Donna Ellen, hier in ‚Lulu‘ als Theatergarderobiere und Mutter, die Erfahrung, dass mann/frau aus kleinen Rollen viel herausholen kann.“
„Als Peters Mutter (Die Weiden, Johannes Maria Staud) lieferte Donna Ellen ein Kabinettstück ab.“ „Donna Ellen verstand es, als Gräfin di Coigny und Mutter der Maddalena neben der göttlichen Netrebko würdig zu bestehen. Wir schätzen dieses Ensemblemitglied.“
„Im zweiten Bild von ‚Die Weiden‘ werden Peter und Lea Zeugen der alkohol- und drogengeschwängerten Hochzeitsparty von Edgar und Kitty, einem Schickimicki-Paar, ideal präsentiert von Thomas Ebenstein und Andrea Carroll. Die US-Amerikanerin glänzte buchstäblich in ihrer Partie. Eine erfreuliche Karriere und wie schön ist es, sich mitfreuen zu können!“ „Gegen Ende dieser interessanten Oper lassen Kittys Kindheitserinnerungen die Zuhörer*innen noch einmal aufhorchen.“
„Als Letzte unter den Solist*innen dieser Don Giovanni-Aufführung steht auf dem Programmzettel ‚Zerlina… Andrea Carroll‘. Sie erhielt mit Recht den stärksten Beifall. Eine ideale Verkörperung der Zerlina, an die großen Interpretinnen heranreichend.“ „Die Romantik dieser Märchenoper Engelbert Humperdincks blühte im Orchester der Wiener Staatsoper auf.
Eine breite Instrumentation und nicht eine zu heftige Lautstärke hat zur Folge, dass Mozarts ‚Zerlina‘ – so paradox es sich liest – als kleine ‚Gretel‘ stimmlich wachsen muss. Andrea Carroll meistert diese Aufgabe und wird – da sind wir uns sicher – bei bester stimmlicher Tagesverfassung ihrer jetzt bereits schauspielerischen Spitzenleistung gleichziehen.“
„Beginnen wir mit den Vertretern des sogenannten starken Geschlechts, das nach moderner Verhaltensforschung durch größere Dauerbelastbarkeit die Frauen sind. Andrea Carroll ließ sich ansagen. Wie bei einer gleichen Situation in einer ‚Madama Butterfly‘ mit der Opolais war es aber eine große Freude, ihr zuzuhören. Sie sang eine bezaubernde, wundervolle Pamina.“
„Ausgezeichnet als Lysander (A Midsummer Night’s Dream) sowohl bei lyrischen als auch bei dramatischen Stellen der sehr jugendlich klingende Tenor Josh Lovell, Schüler der uns als großartiger Strauss-Sängerin in Erinnerung gebliebenen Julia Faulkner. Wir heißen ihn herzlich als neues Mitglied des Wiener Ensembles willkommen.“
„Josh Lovell wertet die Partie des Don Ottavio ungemein auf. Im Terzett klangen Donna Anna (Hanna-Elisabeth Müller), Donna Elvira (Federica Lombardi) und Don Ottavio traumhaft harmonisch.“ „Josh Lovell stellte für den Ersten Soldaten, den Dichter Lukan und einen der Vertrauten Senecas (L’incoronazione di Poppea) eine Luxusbesetzung dar.“
„Ein besonderes Lob gebührt Josh Lovell als Sohn Noboru, der Nummer Drei in der Hierarchie der Jugendbande in Hans Werner Henzes ‚Das verratene Meer‘. Seine Stimme klang ganz anders, als wir seinen Don Ottavio vor zwei Jahren erlebt hatten. Er passte seinen Tenor dem Charakter eines eben erst mutierten Halbwüchsigen an.“
„Die eindrucksvollste Leistung der drei Hauptdarsteller schenkte uns in dieser Henze-Oper Vera-Lotte Boecker mit ihrem lyrisch-dramatischen Sopran. Besonders in der vorletzten 13. und in der letzten 14. Szene verstehen wir die Gefühlsregungen der Mutter und sie gehen uns ans Herz.
Vera-Lotte Boecker war uns bisher nur aus Werken von den Rändern der Operngeschichte bekannt, als Virtù und Drusilla in Monteverdis ‚L’incoronazione di Poppea‘ und als Fusako aus Henzes ‚Das verratene Meer‘. Von ihrem ersten Auftritt als Rigolettos Tochter Gilda an begeisterte sie uns und wir kamen nie in Versuchung sie mit früheren erstklassigen Besetzungen zu vergleichen.“
Lothar und Sylvia Schweitzer, 23. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 103: Die Sängerstimmen klassik-begeistert.de, 12. Dezember 2023