Buchbesprechung:
Marie-Theres Arnbom – „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt“ aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938
Amalthea Signum Verlag, Wien 2023, 205 S., zahlreiche SW-Abbildungen, € 28,00
ISBN 978-3-99050-263-1
von Dr. Regina Ströbl
Jeder denkende Mensch sollte eine Meinung auch zu den politischen Geschehnissen seiner Zeit haben und für seine Überzeugungen eintreten, um eine deutliche Grenze gegen Antisemitismus, Rassismus, Hass, Hetze, Unterdrückung und weitere derartige Widerlichkeiten zu ziehen. Gerade dabei kommt Personen des öffentlichen Lebens, Prominenten und Künstlern eine besonders wichtige Rolle zu. Sie kann für viele richtungs- und meinungsgebend sein.
Spätestens seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine wird dieses Thema auch unter vielen Klassikfans heiß diskutiert; man sehe sich nur auf den einschlägigen Portalen und Blogs um. Hitzig wird ausgefochten, ob klassische Künstler und Künstlerinnen zu einem entsprechenden Statement verpflichtet sind oder ob man sich ohne Ansehen einer möglicherweise nicht tolerierbaren Meinung nur an der schönen Kunst erfreuen darf.
Das muss man trennen, „sie will doch nur singen“, „er will doch nur dirigieren“, heißt es dann. Schnell ist vergessen, in welchen Verstrickungen zum Kriegstreiber die Damen und Herren Künstler stehen – was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, lieber einstimmen in den wieder erstarkten Jubel. Ganz Hartgesottene gehen noch weiter, sehen sie sogar als Opfer übertriebener Solidarität. Man darf gewiss sein, sie alle sind weich gefallen und nach kurzem Aussitzen der Krise auch wieder auf den Bühnen der Welt zu finden. So schlimm war es dann wohl doch nicht. Ob Künstler also offen politisch sein sollen oder müssen, scheint demnach irrelevant, es gibt ja genügend treue und gerne ausblendende bzw. ignorierende Fans. Eben noch verurteilt, sind alle wieder da, als wäre nichts gewesen, schnell ist vergessen…
Schnell vergessen sind auch die Angehörigen der Wiener Volksoper, die nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich von jetzt auf gleich entlassen werden. Von den Intendanten über die Musiker bis hin zum Theaterarzt werden alle aussortiert, die wegen ihrer politischen Meinung oder ihrer jüdischen Herkunft für das neue System nicht mehr tragbar sind. Man ersetzt sie durch regimetreue Menschen, das Publikum applaudiert und was aus den gerade noch auf der Bühne stehenden Stars, den Orchestermusikern, Komponisten, Librettisten, Choreographen, etc. wird, deren Kunst eben noch bewundert und heftig akklamiert worden war, ist egal. Hauptsache, für das Vergnügen wird gesorgt.
„Theater ist eine flüchtige Kunst“ schreibt Lotte de Beer, die gegenwärtige Intendantin der Volksoper im Vorwort zum Buch „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt“ von Marie-Theres Arnbom. Und so flüchtig wie die Kunst sind für die Besucher der Vorstellungen dann wohl auch die Schicksale der vertriebenen Künstler. Bei dem Buch handelt es sich um die zweite, überarbeitete Auflage eines bereits 2018 zum 100. Jubiläum der Volksoper erschienenen Bandes, der akribisch und mit bewundernswertem Aufwand den weiteren Wegen der verfemten Künstler nachgeht und deren Leben soweit wie möglich rekonstruiert. Ausgangspunkt ist die letzte Premiere vor dem sogenannten „Anschluss“, „Gruß und Kuß aus der Wachau“ von Jara Bernés, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda.
Gegenwärtig ist an der Volksoper unter dem Titel „Lass uns die Welt vergessen“ genau diese Situation zu erleben. Regisseur Theu Boermanns rekonstruiert die Probenzeit, in die der gewaltige politische Umbruch eindringt und das bestehende Gefüge dramatisch auseinanderreißt. Das Buch nun nimmt die so abrupt abgerissenen öffentlichen Lebensfäden der eben noch bejubelten, dann schnellstmöglich aussortierten Künstlerinnen und Künstler auf und verfolgt sie bis zum oft bitteren, ja entsetzlichen Ende.
Jara Bernés’ Musik wird schnell aus dem Programm genommen; er überlebt zwar den Krieg, stirbt aber 1949, ebenso vergessen wie seine einst so gefeierte Musik. Fritz Löhner-Beda wird bereits am 13. März 1938 verhaftet und nach Buchenwald deportiert, wo er am 4. Dezember 1942 erschlagen wird. Kurt Breuer gelangt nach New York, Hugo Wiener nutzt eine Einladung nach Kolumbien zur Flucht, muss aber seine Familie zurücklassen, er „(…) verlässt am 14. Juni 1938 Europa mit größter Sorge um seine Eltern und seine Schwester Gisela – es wird ihm nicht gelingen, seine Familie rechtzeitig außer Landes zu bringen. Der Vater stirbt 1939 unter ungeklärten Umständen in Wien, Mutter und Schwester werden deportiert und ermordet. Auch Kurt Breuers Mutter nimmt dieses schreckliche Ende, ebenso wie Fritz Löhner-Bedas Frau Helene samt ihren beiden kleinen Töchtern Lieselotte und Eva.“
Der gefeierten Sopranistin Ada Hecht und ihrem Mann Max, einem Bankier, gelingt es, ihren Sohn Manfred nach Amerika zu schicken. Dieser versucht von dort aus erfolglos, Visa für die Eltern zu besorgen, um sie nachholen zu können. Zahlreiche Briefe dokumentieren die wachsende Verzweiflung nicht nur inhaltlich, die Schrift Adas verändert sich von einer großzügigen zu einer „flackernd-nervösen“. Am Ende steht der Transport zunächst nach Theresienstadt, wo Ada Hecht, körperlich schon enorm geschwächt, noch einmal verschiedene Partien singen kann, bevor sie mit ihrem Mann wie auch der Sänger und Komponist Viktor Flemming nach Auschwitz deportiert und ermordet wird.
Vielen anderen gelingt die Flucht und mitunter eine zweite, eindrucksvolle Karriere. So bereist der Dirigent Walter Herbert – seit der Saison 1932/33 an der Wiener Volksoper engagiert – früh die Welt und erkennt bald nach seiner Rückkehr im April 1937, dass es für ihn dort keine Zukunft geben kann. Er verlässt im Frühjahr 1938 Europa und wird zum Gründer zahlreicher Opernhäuser in Amerika, bringt bis dato dort unbekannte Opern wie „Salome“, „Otello“ oder „Tristan und Isolde“ dem staunenden und begeistertem Publikum nahe. Gesungen werden die Partien zunächst von europäischen Sängern; so engagiert Herbert Größen wie Astrid Varnay, Kirsten Flagstad und Jussi Björling.
Dann gründet er, der aus religiösen Gründen Verfolgte, mitten in den 1960er Jahren gemeinsam mit einer Missionsschwester in Mississippi die Opera-South, die erste All-Black Opera Company, und studiert mit ihnen Opern wie „Aida“, „Turandot“ und den „Fliegenden Holländer“ ein. Bis zu seinem Lebensende 1975 mit 77 Jahren arbeitet er unermüdlich. So wie ihn treibt es viele Künstler von Deutschland und Österreich nach Nord- und Südamerika. Einige können sich eine Karriere aufbauen; von anderen verliert sich die Spur alsbald, so vom Choreographen Harry Neufeld und vom Regisseur Kurt Hesky, die beide in Brasilien Aufnahme finden.
Schließlich Peter Paul Fuchs: Als Korrepetitor an der Volksoper begonnen, erreicht er über mehrere Stationen schließlich um die Jahreswende 1938/39 New York, wo er an der „Met“, erstem Sammelpunkt vieler geflüchteter Musiker, mit Empfehlungsschreiben seines Lehrers Felix Weingärtner zunächst als Ballett-Repetitor sein Geld verdient. Sein Weg führt ihn bald in viele große Städte des Landes, wo er erfolgreich unterschiedliche Aufgaben an Theatern und Universitäten übernimmt. Auch er bringt wie Walter Herbert bisher Ungehörtes in die Neue Welt. „Man ist versucht zu sagen, dass sie [die geflohenen Künstler] das Land kulturell kolonialisieren“, schreibt Arnbom an einer Stelle. Fuchs hinterlässt ein Archiv von unveröffentlichten Kompositionen, Bildern, Dokumenten, das von seiner jetzt 99 jährigen Ehefrau Elissa erhalten wird.
Was ihn und etliche seiner vertriebenen Leidensgenossen eint, ist nicht nur die große Kraft, in einem fremden Land nochmals ganz neu anzufangen, neues Glück zu finden; es ist auch die nie verlorene Liebe zur Heimat. Viele kehren nach dem Krieg zumindest für Besuche nach Wien zurück, andere bleiben bis zu ihrem Tod dort. Wurzeln sind mächtig.
Marie-Theres Arnbom entreißt diese und viele weitere Schicksale dem Vergessen. Dafür hat sie enorme Archivarbeit geleistet, Material gesucht und gefunden u.a. im Österreichischen Staatsarchiv, dem Leo-Baeck-Institute New York, dem Archiv der „Met“ sowie weiteren Bibliotheken und Archiven. Viel mehr dieser wertvollen Schätze sind dort noch zu heben, wie sie bemerkt. Der Anhang des reich bebilderten Bandes umfasst außer einem ausführlichen Anmerkungsteil, dem Namensregister, Quellen- und Bildnachweis und Literaturangaben auch eine Seite mit den Namen und Lebensdaten der beschriebenen Personen, was für eine schnelle Information äußerst hilfreich ist.
Der Kontakt zu den Nachfahren der dargestellten Künstlerinnen und Künstler führte zu ambivalenten Begegnungen und Erfahrungen. Dort traf sie auf viele Geschichten, Erinnerungen, Schachteln voller Bilder und Dokumente, aber auch auf Unkenntnis und Unwissen, weil über das Erlebte geschwiegen wurde. Bei all diesen Schicksalen bleibt die Autorin einem angemessenen wissenschaftlich objektiven Schreibstil treu, sie bewertet nicht, sie klagt nicht an, sie bleibt neutral. Dennoch spürt man ihre Empathie und es gelingt ihr, dass der Leser voller Erschütterung, ja, Fassungslosigkeit Seite um Seite, Kapitel um Kapitel liest, am Buch hängenbleibt.
Wie aktuell dies gerade angesichts stark zunehmender gewaltsamer Übergriffe auf jüdische Mitmenschen und Einrichtungen nicht nur in diesem Land ist, war bei der Ersterscheinung 2018 vermutlich kaum abzusehen. Das Jahr 1938 ist gar nicht so weit weg, wie die meisten glauben. Daher: Nicht wegschauen, Courage zeigen, denken, dieses Buch lesen und weitergeben. Wer in und um Wien weilt, gehe in die Volksoper und schaue „Lass uns die Welt vergessen“. Für beides: unbedingte Empfehlung!
Dr. Regina Ströbl, 29. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at