Sylvain Cambreling © Yomiuri Nippon Symphony Orchestra
Sonderkonzert Elbphilharmonie Großer Saal
Hamburger Symphoniker
Sylvain Cambreling Dirigent
Alexander Malofeev Klavier
Nikolai Brücher (* 1979) Convocatio – Symphonische Fanfare
George Gershwin (1898–1937) Klavierkonzert F-Dur
Pause
Nikolai Rimski-Korsakow (1844–1908) Scheherazade op. 35
Das Meer und Sindbads Schiff (Largo e maestoso – Allegro non troppo)
Die Geschichte vom Prinzen Kalender (Lento – Andantino – Allegro molto – Con moto)
Der junge Prinz und die junge Prinzessin (Andantino quasi allegretto – Pochissimo più mosso – Come prima – Pochissimo più animato)
Feier in Bagdad. Das Meer. Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen Reiter (Allegro molto – Vivo – Allegro non troppo maestoso)
Elbphilharmonie, 8. Januar 2024
von Harald Nicolas Stazol
Stellen Sie sich vor, Messieurs Dames, Sie zittern als junger, äußerst majestätisch-genial-gefälliger Komponist – wie sich sogleich zu meinem Entzücken herausstellt – im dunkeltaubenblauen, peitsch-engen Anzug, aufgeregt bis zum Platzen weil Elphi-Debüt, und Sie sitzen in der Künstlerreihe B4 1-5, und zittern… und dann kommt eine Gruppe Kölner Rentner, die behauptet, Du säßest auf ihrem Platz, Dich umringt, NÄHERKOMMT, der arme Mann!?
Ich erhebe mich, über den Gang zum Grüppchen vom Rhein, „darf ich, die Herrschaften?“, und blicke auf die Tickets, Etage 16, die Platzierung ist mir entfallen, „nun, Sie sind ganz woanders“ – das hätte ich mal machen sollen, aber ich sehe, dass dieses „Wunderkind“, oder sollte man bei Geburtsjahr ’79 lieber sagen „ein Genie in den besten Jahren“, er, der er alle 55 der heute Abend nun außerordentlich wirklich, will sagen realiter, sich selbst gut beweisende Musiker, ja alle, seit Jahren kennt: Die „Hamburger Symphoniker“, deren bloße Existenz unserer Perle von Stadt einen dezent-zurückhaltenden, sich heute Abend, meinem 54. Jubeltage, einem verschneit-vereisten Januarabend zur Philharmonie über die schneeig-glatten Brücken an der Elbe, einen besonderen, hellcrème- schimmernden Glanz verleiht!
An diesem Abend, unter dem gewaltig-zärtlich-filigranen Baton des Sylvain Cambreling, was sag ich, Monsieur CambreKing! CambreKLING?
Und es gibt, Messieurs Dames, heute Abend NOCH ein Wunderkind – um die Spannung ein wenig zu erhöhen…
Und wieder werden die Ränge des Hauses bespielt, Fanfarenstöße aller Blech-Gattungen aus den vier „Ecken“ des Gebäudes – man verzeihe, ich war nicht imstande, mit meinem Stehkragen mich allerseiten umzuwenden – und da hört man ihn schon, den Spätspät-Klassiker, der mit mir wunderbarem Bombast vortragen lässt, Nikolai Brücher, und so nehme ich das Werk voller Representations-Klang und majestätischem Volumen nun als Geburtstagshymne.
Einst gab es einen Palast von Heinrich VIII. „Nonesuch“, der heute nur noch in Fundamenten erhalten ist in Wales, wenn ich mich recht entsinne, „prächtig wie Chambord“ heißt es in den Chroniken, „sic transit gloria mundi“, möchte man einwenden, allein: Für die vier Türme des Schlosses im Innenhof entsinnt niemand geringerer als der junge Thomas Tallis (das zweite Wunderkind, eins kommt noch!) sein ätherisches „Spem in Alium“, das er in vier Chöre in die Himmelsrichtungen ebenselbiger Türme aufteilt, und ipso facto ‚just like that‘ die Quadrophonie erfindet.
Genau dieses Effektes bedient sich Brücher, bruchlos gehen die Trompetenstöße ins große Orchester über, obwohl für meine Begleitung „da einige Töne waren, die nicht so recht gepasst haben?“ – „Gilbert“, sage ich, „ich fürchte, das war Absicht!“ – und George, der andere Geburtstagsgast, schnell hat er sich natürlich sofort noch eine Karte gekauft, „Dein Geburtstag ist der „Beginn der Saison“, The Start of the Season, George sagt: „Sehr laut – und sehr modern“ – und ebendies rechne ich dem Jungspund im besten Alter sehr, sehr hoch an. Der wird noch was der Junge! Quatsch: Der ist schon was!
Und plötzlich – ein fast noch Pubertierender bemächtigt sich jazzig-fröhlich des 2. Klavierkonzertes von Georg Gershwin, derart, dass Sylvain Cambreling, hochrot nun vor Körpereinsatz, fast in Schwimmbewegungen ausbricht, in Handkussnähe dirigiert er das dritte Wunderkind des Abends, den taufrischen Jungstar aus Moskau, keine 24: Alexander Malofeev.
Knallblond knallt der Knabe seinen Gershwin hin, an der Hand des Maestros, und da ist das alte, Swinging New York, darin der junge Gershwin (das vierte Wunderkind, aber jetzt hören wir auch auf!!!), und alle solcher Fingerwirbel, das seh ich, weil ich dank der Direktion IM Klavier sitze!
Nach dem ersten Jazz-Satz brandet schon Jubel auf, stolz zugelassen von Cambreling – und man möchte Komponisten ja nicht des Diebstahls bezichtigen, aber die ersten Tuschs bei Gershwin F-Dur sind deckungsgleich des Soundtracks von „Cleopatra“ von Pascal Petit, mit der göttlichen Elizabeth Taylor und Richard Burton, auch er sei verewigt!
„Schreib ein ruhiges, klares, ausgewogenes Stück“, denke ich beim Morgenespresso, „Wieder nichts!“, denke ich gerade.
„Nun, dafür fehlt ihm noch ein wenig der Arsch in der Hose!“, urteilt gnadenlos wie immer der Sohn einer Sopranistin George draußen, während Gilbert die Birthday-Drinks beschafft, „wenn du an die Rhapsodie in Blue denkst, das muss schwärzer sein, wenn Du verstehst, was ich meine“ – wobei ich, Gilbert hat meinen Apéro in der Hand, ihn und George aufkläre, dass allein das Widerspiel zwischen dem genialen Kind und dem gütigen Greis samt alles gebender Topmannschaft schon stupende, pardon: Schon krass!
Aber da ist ja noch die Zugabe, ein Herr stand in der ersten Reihe vorher schon applaudierend, des strohblonden Alexej aus Moskau. Und das Ganze in „Affenhaltung“ gekrümmt vornübergebeugt, die des Horowitz, unmöglich den Lehrern alter Schule – und was haben sie, und beweisen sie, die Wunderkinder, und der kleine Alex lässt mal wieder die Frage offen: Wo nimmt Russland all diese Genies her? Gibt’s da ’ne geheime Datscha???
Die Zugabe? Hier ist sie, nun ist Alex eingespielt, hier kann er brillieren, die Apotheose aus dem Nussknacker, für Klavier bearbeitet von Pletnjev, unter dessen Dirigat man beide auf YouTube finden wird – und da kann man supranational-nationalistisch sagen: So kann nur ein Russe einen Russen spielen! Hier entfaltet er sich, dieselbe Zugabe wie unter Pletnev – was für ein Platinjunge! Ich kann nur sagen: Das wird ja noch spannend mit Dir, mein Sohn!
Gilbert und George sind nicht überzeugt.
Und dann Nicolai Rimski-Korsakow. Seine Scheherazade, ein Ton-Poem, bei dem man im besten Falle einfach aufhört zu denken. So gewaltig ist das Orchester hier, weitwogend Cambreling, weitausholend der Solist von erster Geige – alleräußerste Schwierigkeiten! – der Konzertmeister Adrian Iliescu, ja programmatisch die Schöne, die den bösen Sultan von ihrer Enthauptung abhält, einfach, weil sie so gut erzählen kann, fast wie bei Scholz und der BILD – aber zurück zum Thema:
1888 dirigiert Nicolai seine symphonische Dichtung zum ersten Mal – Hollywood lässt ihn in der Verfilmung mit Gregory Peck (irre ich?) zitternd vor der Tür des Konzerthauses stehen, ängstlich hineinhorchend, auch schön – und die Ballets Russes debütieren mit einem goldlackierten Nijinsky – der Orient ja die verkappten Lüste der Bourgeoisie des Fin-de-siècle, und ja, auf der Bühne wird kopuliert, zumindest tänzerisch.
Auf das Schreien im letzten, apotheotischen Satze, das man höchstlich-amüsant bei meinem verehrten Leif Sigerström in Oslos sehen und hören kann, JA, DAS ORCHESTER BRÜLLT, verzichtet Cambreling, dafür bei nicht endendem Klatschen eines begeisterten Hauses, werden alle aufgerufen – selten in einem Werke hängen die leisesten Passagen von Solisten des Orchesters von entrückend-entrücktem Cello bis bezaubernden Querflöten ab (Susanne Barner, Wiebke Bohnsack, Mareile Haberland), die Bläser, die Pauken – und ich habe im gesamten Abend wirklich eine seltene Ausgewogenheit bemerkt, es ist, als balancierte man einen Eierlöffel auf einem Frühstücks-Ei, die „Times“ in der Hand.
„Und hier im Keller haben wir damals Paintball gespielt“, sagt Gilbert gerade, während das Orchester steht im Ruhmesglanz und unserer Hände Arbeit…
Ja, das war vor 25 Jahren, „weißt Du noch, wie die Keller des Kaispeichers rochen?“ – Natürlich, nach vergorenem Kaffee“ – seltsam säuerlich und scharf.
Vier Wunderkinder und drei Nicolai!
54 ist ein wunderbares Alter!!! – leise lachend, sich durchs Haar streichend, den Blick nach oben gewendet, links im Prospekt ab, Dunkelheit, Vorhang…
Harald Nicolas Stazol, 9. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lausitz Festival, Symphoniker Hamburg, Sylvain Cambreling, Dorfkirche Cunewalde, 28. September 2020