Stanislav Kochanovsky © NDR, Marco Borggreve
Ein Überblick über das Festival des NDR, „Kosmos Bartók“ – Elbphilharmonie, 2. Februar – 10. Februar 2024
Béla Bartók
Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 Sz 112
Zwei Bilder Sz 46
Suite aus »Der wunderbare Mandarin« Sz 73
NDR Radiophilharmonie
Valeriy Sokolov Violine
Stanislav Kochanovsky Dirigent
von Harald Nicolas Stazol
Dass mir ein Knopf vom Anzug springt vor und vom Wahnsinns-Applaudieren, ein goldener von Gieves & Hawkes, weil ich derart frenetisch bin, ist mir in meiner 35-jährigen Karriere noch nie passiert, aber wer denkt jetzt schon an Maßanzüge?
„Mir tränen die Ohren“, sagt meine Begleiterin Dorothy Nora, sie selbst ganz ergriffen von diesem Béla Bartók – und die Dame, die mich ein wenig an meine Großmutter erinnert, samt Perlenkette, im blauen Twin-Set, ganz außer sich: „So was hab ich ja noch nie erlebt!!!!!! Wie heißt der Geiger?“
„Valeriy Sokolov heißt er!“ schreie ich ihr freundlich-aufklärend zu, dann schreien wir alle wieder „Bravo“ und jubeln „Huihuihui!!!“
Valeriy Sokolov
Bartók selbst wäre von dieser hyper-rasanten Interpretation (geschlagene Minuten früher fertig als Hadelich), der eines mühelosen-rasend schnellen Meisters der Geige, hingerissen gewesen.
Das 2. Violinkonzert des Komponisten ist ursprünglich als einsätzig gedacht, doch der Geiger und Auftraggeber Zoltán Székely besteht auf einer dreisätzigen Form, die schon im ersten Satz zu Beginn mit einer himmlischen Harfenserenade einsetzt – Harfen spielen bei Bartók in den Orchesterwerken immer eine besondere Rolle, und unsere Circe harft, die des wie im Rausche sich gebärdenden NDR Elbphilharmonieorchesters, dass die Kameras des NDR alle Linsen voll zu tun haben, um sich diesen Geiger auch nur annäherungsweise anzunähern.
Einmal stehen nur zwei Saiten im wie in einer Gruft stillen Saal: Die eine der Harfe – und die andere des Sokolov.
Denn der ist einfach auf Mach 2. Ich bin gespannt, ob jemand diesen Rekord zu meinen Lebzeiten noch durchbricht, das blaue Bartók-Band.
Und gebannt-steinern liegen und schweben die Ränge, während Valeriy Sokolov nichts weniger als ein Wunder vollbringt: Den per-fek-ten Ungarn!
Oft kommt er in Tracht ins Konservatorium, der junge Musikstudent Béla Bartók, so patriotisch ist er, Ungarn ist im Umbruch, sein erstes Werk widmet er Lajos Kossuth: Der, schnell nachgeschlagen, „in den Jahren 1848/49 einer der Anführer der Ungarischen Unabhängigkeitserhebung gegen Österreich war. Auch nach der Niederschlagung der Revolution setzte er sich im Exil bis zu seinem Tod für die Unabhängigkeit Ungarns vom Kaisertum Österreich (ab 1867 Österreich-Ungarn) ein. Bis in die Gegenwart gilt Kossuth als ungarischer Nationalheld.“
10 000 (in Worten: Zehntausend) Aufnahmen prägt Béla auf Walzen, auf weiten Reisen über die Puszta bis nach Transsilvanien – im Ernst! – sie führen ihn nach Rumänien, Bulgarien, Slowenien, er lässt sich vorsingen und nimmt singende Weiblein auf – manche der Damen können 500 (in Worten: fünfhundert) Lieder auswendig – oder Chöre, auf Wachswalzen, ich versuche gleich, eine Aufnahme zu finden, ah, hier: Die Originale der Rumänischen Tänze:
Auf seinen Reisen, oft zu Fuß oder auf Pferdekarren, auch in Begleitung seines Freundes Zoltán Kodály, nimmt er sie auf, und kommt bis dorthin, in die fernen Karpatendörfer, wo die Hirten bis auf den heutigen Tag virtuos Flöten und Dudelsack spielen – und am Vorabend ist wundersamerweise ebensolch einer auf der Bühne – ich wette der erste Dudelsack in der Geschichte der Elbphilharmonie überhaupt?
Denn es ist Festival! Einen „Kosmos Bartók“ führt der NDR hier 6 Tage lang auf, eine Reise durch das Gesamtwerk des Ungarn, durch das gesamte Ungarn, hochkarätig besetzt, beispiellos und faszinierend, im reinen bildungsbürgerlichen Auftrag – und man kann sagen:
Ohne diesen Dudelsack des virtuosen Flötisten Szokolay Dongó Balász und seiner Begleitung Júlia Kubinyi, sie gilt als beste Sängerin dieser Lieder überhaupt – ohne dessen Melodien gerade gäbe es kein 2. Violinkonzert, ja, keinen nächsten Abend!
Kein Concerto für Orchester (am Eröffnungsabend). Und kein 3. Klavierkonzert.
Die letzten 17 Takte schreibt ein Schüler, einer der bedeutendsten Komponisten der Europäischen Musikgeschichte stirbt am 26. September 1945 im Exil in New York City an Leukämie, er, den die Kritiker New Yorks nach der Premiere 1928 eine „Grenzenlose Hässlichkeit“ bescheiden.
Es existierte kein Quartett Nr.6 (wiederum am weiteren Vorabend, dem Dienstag), vom Jerusalem Quartett innig-hingegeben – hier, im dritten Satz werden die Saiten harsch, die Bögen gehackter, in den Rhythmen, die der so Fernreisende den Bauernfidlern abhört.
Und von dem man sich bei der folgenden Ton- und Bildaufnahme einen schönen Eindruck machen kann:
Besonders ist mir die innige Bewunderung im Auge des Jungdirigenten dort den Zigeunergeigern gegenüber, die bei den „Rumänischen Tänzen“ ganze Partien übernehmen und sich mit dem großen Orchester nahtlos die Passagen teilen. Der Geiger der Truppe verzieht keine Miene, nickt Richtung Pult für den Einsatz, und da lächelt er. Solche Töne kann man nun im Kleinen Saal der Philharmonie hören, einen Hirten beim Flötenspiel.
Die Gesänge der Bauernfrauen und jungen Männer – bis ins hohe Alter werden jene vom Besuch mit der Thomas Edison Maschine noch erzählen, fast alle Walzen sind erhalten – sie fließen in „Vier altungarische Volkslieder für Männerchor“ SZ 50:
„Turteltäubchen, sei so träg nicht!
Bau dein Nest so nah am Weg nicht!
Hier, wo alle Welt vorbeigeht Auf dein Nest los mit Schrei geht.“
Wie es das NDR-Vokalensemble vermag, auf perfektem Ungarisch zu intonieren, bleibt am Vorabend ein Geheimnis! Doch sicherlich ist dies dem Chorleiter Zoltán Pad zu danken. Dann wieder Dudelsack und „Heyheya-hey“ der Sängerin.
Zurück zu gestern Abend:
Valeriy Sokolov – jetzt ist kein Halten mehr, im sich ob seines Spiels in reiner Trance befindenden Rundes – der Mann biegt sich mehrfach mit durchgedrücktem Rücken, wenn er die Violine nach oben reißt, den Bogen wirft er, dass es das Mikro über ihm fast wegschlägt.
Passagen, Flageoletts, Triller, im Rausche der Geschwindigkeit. Er macht es allein, innige Blicke zum Dirigenten, aber hier gibt Sokolov den Ton und Tempo vor, er reißt das Orchester geradezu mit sich. Die Zugabe, eine Partita von Bach, ich sagte es meiner Begleitung voraus – zerbrechlich, per-fekt, und zukunftsweisend – auch die erkläre ich hier und jetzt zum Bach’schen Goldstandard.
Und die Musikanten im Frack und in Lackschuhen, man hört ein Glockenspiel, Pauken, phantastischen Posaunen und Trompeten, dort ein Gong von Manneshöhe, eine lachende Oboistin, nun, das Orchester kann endlich mal so richtig loslegen, dass die Fetzen in die Puszta fliegen, und von der die Bourgeoisie Budapests in Bartóks Jugend kaum Kenntnis nimmt. Zum ersten Mal in Berührung mit jener originalen Volksmusik kommt der 23-Jährige im Gesang eines Hausmädchens.
Und diese Freude und der Stolz auf sich selbst strahlt nun über die Musiker im Lichtdom des eigenen Erfolges morpht da in den kompliziertesten 12-Ton-Passagen ein einziger, völlig verschmolzener Klangkörper zusammen, unter dem fast lässig-schwingenden Stanislav Kochanovsky, wie beim „Wunderbaren Mandarin“, dem jagenden Werk, majestätisch-aufstrahlenden, vorher, rhythmisch schwerst gebrochen und wieder zusammengesetzt.
Den heutigen Freitagabend aber kann ich tatsächlich voraussagen: Ich habe Igor Levit – „over, in, and under the Steinway“ berichte ich scherzend auf Insta an Garrett, den Dirigenten der „Berlin Academy of American Music“ – beim heißblütigen Vortrag schon gehört, vor einer Woche, dem Auftakt: Es ist eine Tour de Force für alle Pianisten, bei Argerich angefangen, das 3., eingewechselt „aus künstlerischen Gründen“ statt des 1. – wenn Levit es morgen, am Samstag dann, beim Abschlusskonzert dieses „Kosmos Bartók“, vor laufenden Kameras zum dritten Male spielen wird…
Es wird sein bestes sein!
Ist es doch Bartóks Bestes auch.
Harald Nicolas Stazol, 9. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at