Die Mailänder Scala sorgt mit Rossinis „Tell“ für Jubel und Buhrufe

Gioachino Rossini, Guillaume Tell  Teatro alla Scala, Milano, 10. April 2024

Teatro alla Scala, Milano © Dr. Charles Ritterband

Das ist mal wieder ein klassisches Exempel für die Irrwege des sogenannten Regietheaters: Diese musikalisch herausragende Aufführung von Rossinis einziger „Grand Opéra“, dem in jeder Beziehung anspruchsvollen „Guillaume Tell“, scheiterte visuell an den Irrwegen einer auf ambitiöse szenische Abenteuer erpichten Regisseurin (Chiara Muti).

Das unverkennbar opernkundige Mailänder Publikum spendete dem großartigen Dirigenten (Michele Mariotti) – Rossini-Spezialist und erklärter Publikumsliebling der Scala-Habitués ganz offensichtlich – schon nach der berühmten Ouvertüre minutenlangen, nicht endenwollenden Applaus.

Und angesichts der zunehmend irrationalen Kaprizen der Regisseurin, die ganz offensichtlich weder vom Stoff noch vom Schauplatz Schweiz auch nur den geringsten Schimmer einer Ahnung hatte, verharrte dieses Publikum in einer Art verständnisloser Schockstarre – bis es (bei der Apfelszene) gar nicht mehr auszuhalten war und der gesamte Zuschauerraum der legendären „Scala“ in ein geradezu infernalisches Buh-Konzert ausbrach. Begeisterter Applaus am Ende, nach fast fünf Stunden „Tell“, für die herausragenden Sängerinnen und Sänger.

Gioachino Rossini, Guillaume Tell

Teatro alla Scala, Milano, 10. April 2024

Musikalische Leitung: Michele Mariotti
Regie: Chiara Muti

Arnold Melchthal: Evgeny Stavinsky
Mathilde: Salome Jicia
Guillaume Tell: Michele Pertusi
Gessler: Luca Tittoto

Orchester und Chor der Mailänder Scala

von Dr. Charles E. Ritterband

Man muss es dieser Regisseurin, die sich in erster Linie selbst inszeniert hat, zugute halten – eine Idee geht auf (oder erscheint zumindest plausibel): Fast die ganze Oper, und zwar von Anfang an,  vollzieht sich in grauschwarzer Düsterkeit und die „Schweizer“ tragen allesamt graue Sträflingskleider mit typischen Sträflingskappen im Stil des Gulag: dies sollte wohl das von den „Österreichischen Herren“ unterdrückte Volk der Schweizer visualisieren.
Diese Schweizer wohnen nicht etwa in idyllischen Alphütten und Chalets sondern in mehrstöckigen, ebenfalls grauschwarzen, die Bühne füllenden Plattenbauten. Als dann am Ende per Tyrannenmord endlich die Befreiung der geknechteten Eidgenossen erreicht ist, herrscht plötzlich Farbe und Fröhlichkeit und am Ende ist da ein wunderbar bunter Wasserfall im Bühnenhintergrund.

So weit, so plausibel. Aber dann: Weshalb wohl die armen Schweizer zu ihren folkloristischen Klängen Tänze im Stil des irischen „Riverdance“ vollführen müssen? Ist es nicht etwas überrissen, wenn der alte, von den österreichischen Schergen umgebrachte Melchthal wie Jesus ans Kreuz genagelt bzw. gebunden wird? Die Schweizerinnen, unverkennbar geschändet und vergewaltigt, in weissen, blutverschmierten Leinengewändern – eine bewusste Anspielung an die israelischen Vergewaltigungsopfer der Hamas-Bestien am Friedensfest des 7. Oktober?

Und was soll das skurrile weibliche Gefolge des bösen Gessler (übrigens: sehr wirkungsvoll, ein personifizierter Tod mit steinerner Miene und blutrotem Gewand), bestehend auf hypermodisch aufgetakelten Damen mit starr grimmigem Grinsen, von denen jede einen leuchtend roten Apfel (der legendäre Tell-Apfel oder Evas Verführungsapfel?) in Händen hält?

Das war dann übrigens der Moment, da das Publikum sich nicht mehr halten konnte und unisono in ein Buh-Konzert einstimmte.

Egal – die musikalischen Leistungen waren überzeugend, ja geradezu überwältigend.

Teatro alla Scala, Milano © Dr. Charles Ritterband

Das stets stark präsente Orchester, die perfekten Chöre und vor allem die Sänger: Der Arnold, jene gefürchtete und schwer zu besetzende Tenorpartie mit der herrlichen Liebeserklärung an die attraktive Aristokratin Mathilde, wurde von Evgeny Stavinsky zum Niederknien schön interpretiert: tenoraler, lyrischer Schmelz, kraftvollen Akzenten vom Feinsten. Und diese Mathilde der Salome Jicia – eine Stimme mit Strahlkraft und doch subtiler Sanftheit. Der Gessler des Luca Tittoto: ein maskuliner, tiefer Bass. Und der lyrische Bassbariton des Michele Pertusi – überzeugend und mehrfach preisgekrönt als einer der weltbesten Sänger in dieser Stimmlage.

Dr. Charles E.  Ritterband, 10. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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2 Gedanken zu „Gioachino Rossini, Guillaume Tell
Teatro alla Scala, Milano, 10. April 2024“

  1. Auch wenn ich keine Kommentare mehr schreiben wollte, werde ich heute ausnahmsweise wortbrüchig.
    Eigentlich ist es auch keiner, sondern nur ein spontaner Gedankengang.
    Der Grund ist die nach langer Zeit wieder aufgeführte Oper „Guillaume Tell“ von G. Rossini an der Mailänder Scala. Besucht habe ich die Vorstellung nicht, las aber mehrere Kritiken. Ein Urteil ist mir dahingehend nicht wirklich möglich. Es wäre nicht gerecht und ist auch nicht mein Ziel. Darüber hinaus las ich ein Interview mit der Regisseurin Chiara Muti.
    Ja, Muti ist eigentlich das Stichwort.
    In doppelter Sicht.
    Chiara Muti ist unter den Regisseuren ein Fels in der Brandung, an dem sich ihr Vater, der ital. Stardirigent Riccardo Muti noch festhalten kann und dank derer er wieder zu szenischen Opernaufführungen gebracht wurde, da sie die nötigen Vorraussetzungen für eine hochwertige und kluge szenische Umsetzung erfüllt. Also eine Voraussetzung, die den Ansprüchen des Maestro entgegenkommt. Da ich Maestro Muti und sein Können sehr schätze und seine Einstellung zum Regietheater zu 200% unterschreibe, hat es mich sehr gefreut, dass er in seiner Tochter eine adäquate Regiepartnerin gefunden hat.
    Sie und ihr Vater wären sich auch sehr ähnlich bis gleich in den meisten Vorstellungen, Ansichten, bis hin zu best. Bewegungen,betonte sie einmal in einem Interview.
    Auch wenn die Beurteilungen in den von mir gelesenen Kritiken eher negativ als positiv ausfielen und das Resultat so und so beurteilt werden kann, musste ich doch schon beim Lesen so mancher erster Zeilen spontan und unwillkürlich schmunzeln und mir kam sofort Folgendes in den Sinn: Spricht hier nicht ihr Vater? Chiara ist doch eindeutig die Tochter dieses Vaters.
    Wie sich die Personen gebeugt über ihre Tablets, den Blick weder nach rechts noch links gewandt, langsamst fortbewegen, nur auf den Boden bzw. ihr Gerät starren, statt den anderen Menschen ins Gesicht, in die Umgebung, den Himmel oder die Natur zu blicken. Zu keiner Kommunikation mehr fähig sind, quasi von dieser digitalen Macht gegeißelt. Dies ist auch ein zentraler Kritikpunkt Riccardo Mutis an der Gesellschaft, in der er sich nach eigenen Aussagen nicht mehr wohl und zugehörig fühlt. Wie oft hebt er eben diese Szenarien hervor, die er selbst oft in Restaurants und im Zug erlebt. Das Zwischenmenschliche, die menschlichen Beziehungen und die Kommunikation gehen verloren und damit die Werte der Gesellschaft, ebenso wie die Achtung vor der Schöpfung und die Spiritualität.
    Die Gedanken und die Sicht auf die Welt von Vater und Tochter sind gleich. Was er in Worten und in der Musik klarzumachen versucht und dabei an die Menschheit appelliert, bringt sie so auf die Bühne.
    Wie das Urteil von Riccardo Muti ausfiel, der ja nicht dirigierte, weiß ich allerdings nicht. Ich konnte ihn noch nicht fragen.
    Ich will nicht über die Herangehensweise und die Produktion urteilen.
    Mir war nur so, als hörte ich Maestro Muti sprechen.

    Gruß,
    Sabine Jesch

  2. Ich habe die Rezension des geschätzten Kollegen mit Traurigkeit gelesen. Bei den Inszenierungen, die ich von Chiara Muti sah, konnte von schlechtem Regietheater keine Rede sein. Im Gegenteil: „Così fan tutte“ (Neapel, 2016) und „Don Giovanni“ (Turin und Palermo, 2022 und ’23) waren wunderbare Zusammenarbeiten mit ihrem Vater Riccardo. Da empfahl sie sich als würdige Schülerin des unvergessenen Giorgio Strehler.
    „Guillaume Tell“ an der Scala habe ich nicht gesehen, konnte mir mithin kein eigenes Urteil bilden. Generell wäre es kein Drama, wenn ihr eine Produktion einmal weniger gelingen sollte, auch im Oeuvre genialer Regie-Größen finden sich neben herausragenden Arbeiten meist auch einige entbehrliche oder weniger gute. Es kommt auf die Richtung an.
    Ich hoffe, dass sich Chiara Muti künstlerisch nicht auf Abwegen befindet. Das wäre sehr, sehr schade. Für sie, Riccardo und uns alle.

    Kirsten Liese

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