Ich bin verrwirrt. Wie beschreibe ich dieses Erlebnis?

The Planting Chronicles, Stadtkapelle Lahr e.V. Ensemble Aventure Freiburg    Parktheater und Stadtpark Lahr, 15. Juni 2024 Welturaufführung

Nicholas Reed © Radlwimmer

Interessant, in der Tat, sehr interessant. Und verrückt, denke ich, sehr verrückt!


The Planting Chronicles
ein Wandelkonzert/ eine Konzertinstallation von Daniel Smutny
in Kooperation mit dem Ensemble Aventure (Freiburg)

Stadtkapelle Lahr e.V.
Ensemble Aventure Freiburg

 Musikalische Leitung:  Nicholas Reed

Parktheater und Stadtpark Lahr, 15. Juni 2024 Welturaufführung 

von Kathrin Beyer

Bevor ich über einen der ausgefallensten Konzertabende berichte, lassen Sie mich kurz über das zu Gehör gebrachte Werk berichten.

The Planting Chronicles ist ein Auftragswerk beider Ensembles an den Komponisten.

Es versteht sich als begehbare Orchesterkomposition,deren Teile nacheinander im Theater und Park erklingen. Der Titel bezieht sich auf die zyklischen Saatfolgen bestimmter Blumen, welche einem zeichnerisch virtuos bebilderten Pflanzenbuch entnommen sind. Dieses befindet sich in Eichstätt.

Um die Komposition so optimal wie möglich an die hiesigen Gegebenheiten anzupassen, reiste Daniel Smutny nach Lahr und nahm die Örtlichkeiten und das Können der Musiker  in Augenschein.

Heraus kommt ein 13-teiliges Tonstück, in dem die auditive Beschaffenheit von Umgebungen beleuchtet, erfasst und verklanglicht wird.

Das Stück lädt in seinen vielen Teilen dazu ein, die eigene Hörposition zu bestimmen,  zu verändern, umher zu wandeln, Klänge von Nah und Fern als einen großen musikalischen Raum wahrzunehmen… Teils erklingen Klangformen sehr nah, dann wieder sehr weit entfernt; sie erklingen in geschlossenen Räumen, mit besonderer Akustik und Atmosphäre und im Freien, wo die Umgebungsklänge der Natur und Menschen integriert werden… Jede Klangform, jedes – teils sehr spezielle – Geräusch ist hierbei gleichwertig mit den Tönen, ganz in Analogie zur Artenvielfalt der Natur., lese ich im Programmheft.

Jedes der Werksteile widmet sich an verschiedenen Orten klanglich einer Pflanze oder Blume.

Ensemble-Aventure © ensemble-aventure.de

Wandeln Sie nun mit mir durch diese Klanginstallation.

Für die ersten beiden Sätze: Spring Snowflake (Frühlingsknotenblume) und Windflower/Wood anemone (Buschwindröschen), nehmen wir konventionell im Parktheater Platz. Auf der Bühne stehen ein Klavier und Schlaginstrumente. Nicholas Reed begrüßt uns und bittet, neugierig und offen für diese Art eines Konzertabends zu sein.

Das kann ich Ihnen versichern, neugierig bin ich unterdessen sehr.

Dem ersten Klang geht eine relativ lange Stille voraus, ich vermute, um diese als solche wahrzunehmen. Und dann bin ich nur noch erstaunt, was aus Instrumenten für Geräusche herausgeholt werden können. Und dieses Erstaunen dauert den ganzen Abend an.

Auf den Pauken wird gewischt und gekratzt, die Schlegel werden durch die Luft geschwungen, ein Regenmacher kommt zum Einsatz. Die Bläser pfeifen, ächzen, röhren, trillern, quitschen… Was die Dame am und mit dem Klavier macht, kann ich kaum erahnen.

Ich werde in den nun folgenden zwei Stunden keinen einzigen Ton hören, den ich erwarte, wenn ich ein bestimmtes Instrument sehe und so manches Mal werde ich zusammenzucken.

Für die nun folgenden beiden Sätze: Squill of Peru (Peruanischer Blaustern) und Guinea-hen/Snake’s head fritillary (Schachbrettblume), verlassen alle ihren Platz, die Musiker teilen sich in mehrere Gruppen auf, gehen an verschiedene Orte des recht großen Hauses und wiederum nach einer längeren Stille geben sie instrumentale  Geräusche von sich. Die Zuhörer waren zunächst leicht verunsichert, wer muss sich sonst während eines Konzertes schon entscheiden, wo er stehen möchte? Das war ein merkwürdiger Moment der Unbeholfenheit und Ratlosigkeit. Ich für meinen Teil fing bald an, meine Position ständig zu verändern und was ich erlebte, war sehr interessant. Bitte gehen Sie stets davon aus, dass wir nicht von Melodien sprechen! Ich meinte also wahrzunehmen, dass diese vielen verschieden Musikergruppen, von denen jede etwas anderes spielte, dennoch ein großes Ganzes überspannt. Ich kann es nicht besser beschreiben, leider!

Nun geht es in Lahrs wunderschönen Stadtpark. Folgende Sätze werden hier an verschiedenen Orten des Parkes gespielt:

Aaron’s rod/ Hag taper (Kleinblütige Königskerze)

Wallflower of Eichstättan neun Orten des Parkes zeitgleich (die neun Dirigenten dirigieren nach Stoppuhr, da sie sich untereinander nicht verständigen können!)

  1. Alpen- Leinkraut
  2. Rote Spornblume
  3. Großes Löwenmaul
  4. Estragon
  5. Garten- Feldrittersporn
  6. Spanische Schwertlilie
  7. Rundblättriges Hasenohr
  8. Herbstadonisröschen
  9. Gemeine Drachenwurz

Die Musiker ziehen von Standort zu Standort, ich habe den Überblick verloren, ob die einzelnen Gruppen immer die gleiche Zusammensetzung haben oder das auch noch variiert. Die Akteure wissen, wo sie hin müssen. Überhaupt nötigt mir dieser ganze logistische Aufwand großen Respekt ab. Ich spaziere hinterher, spüre den vertrauten Klängen des Stadtparks nach, die ich jetzt sehr viel intensiver wahrnehme. Setzen die Klanginstallationen ein, verändern sich die Alltagsgeräusche. Besonders der Pfau hat am heutigen Abend einige gräuschvolle Auftritte, ich habe keine Ahnung, ob er zum Großen Ganzen beitragen oder sich distanzieren möchte. Manche Vögel werden lauter, andere verstummen, in der Ferne ein Krankenwagen, selbst dessen Rhythmus nehme ich bewusst wahr, Stimmen von anderen Menschen, Straßengeräusche, Kinderlachen und Kinderweinen und dazu immer diese Töne der Instrumente, schrill, dumpf, laut, leise, peitschend, pfeifend…

Und es ist richtig, verändere ich meine Position, verändert sich die Klanglandschaft.

Schließe ich die Augen, sind es Dschungelgeräusche, die ich ausmache. Ganz eindeutig Affen und andere Tierschreie, die ich nicht zuordnen kann. Mal habe ich den Eindruck, dass die neun Instrumentalgruppen gegeneinander spielen, dann ist es ein Ergänzen und manchmal ein einander Antworten.

Das Mittsommerfest dieses Konzertes namens Solstice (Sonnenwende) findet im Herzen des Parks statt. Eine starke Musik für ein starkes Ereignis im Jahreslauf und tatsächlich auch melodisch; ein bißchen jedenfalls.

Ab hier geht alles wieder rückwärts, alle Sätze werden in umgekehrter Reihenfolge noch einmal gespielt und am Ende lande ich wieder im Theater.

Der Jahreslauf ist vorbei, der Abend auch.

Ich bin verwirrt. Wie empfinde ich dieses Erlebnis? Interessant, in der Tat, sehr interessant. Und verrückt, denke ich, sehr verrückt. Die Musik ist gleichermaßen schrill und harmonisch,  miteinander und gegeneinder, sich entfremdend und ergänzend, dialogisch und monologisch. Es klang wahrlich nicht immer wohltuend, aber als  ein großes Ganzes.

Auf dem Heimweg lächle ich vor mich hin, fühle mich entspannt und habe keine Ahnung, wie ich es morgen schaffen soll, für das Alles die passenden Worte zu finden.

Seien Sie versichert, ich gebe mein Bestes!

Kathrin Beyer, 16. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel Gastspiel des Theaters Pforzheim im Parktheater Lahr, 6. Februar 2024

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