Foto: © Simon Pauly
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 18. Juni 2018
Wiener Symphoniker
Martin Grubinger, Percussion
Gustavo Gimeno, Dirigent
Charles Ives: The Unanswered Question
John Corigliano: Conjurer. Konzert für Schlagzeug und Streichorchester
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74 Pathétique
von Thomas Genser
Bei sommerlichen Temperaturen bringen Martin Grubinger und die Wiener Symphoniker hitzige Klänge ins Konzerthaus. Das Konzert für Schlagzeug und Streicher von John Corigliano kann trotz Startschwierigkeiten begeistern. Passend dazu gibt es als Einleitung eine Prise Charles Ives. Für den konservativen Teil des Publikums bringt man nach der Pause Tschaikowskis Pathétique. Die muss aber ganz klar im Schatten der modernen Werke stehen bleiben.
The Unanswered Question komponierte der US-Amerikaner Charles Ives im Jahr 1908. Nach Überarbeitungen in den 1930ern wurde das Stück zu einem zentralen Werk der musikalischen Moderne. So zentral, dass selbst Leonard Bernstein seine berühmten Harvard-Vorlesungen unter diesem Titel abhielt. Ives konzipierte The Unanswered Question auf drei Ebenen: Während die Streicher eine hymnische Fläche legen („Die Druiden, die nichts wissen, nichts sehen und nicht hören”), stellt die Trompete die „ewige Seinsfrage” in den Raum. Diese wiederholt sich mehrmals, zwischendurch diskutiert eine kleine Gruppe von Holzbläsern über die richtige Antwort.
Innovativ ist dabei die Aufstellung der Musiker im Großen Saal des Wiener Konzerthauses: Während sich die Streicher, die mit sehr warmem Klang und dicken Bässen aufwarten, auf der Bühne befinden, beziehen die Bläser auf den Rängen Stellung. Gastdirigent Gustavo Gimeno hält das Geschehen mit sicherer Hand zusammen, aufgrund der räumlichen Distanz sind seine Gesten sehr ausladend, die Bläsereinsätze gibt er mit hoch erhobener Hand. Eine geniale Interpretation, doch so kurz! Die Frage – ein letztes Mal von der Trompete gestellt – bleibt unbeantwortet.
Nach dem mystischen Beginn wird das Programm aufgeweckter: Schlagwerk-Superstar Martin Grubinger spielt das hochkomplexe Konzert Conjurer (2007) des zeitgenössischen US-Komponisten John Corigliano. Vor dem Orchester auf der Bühne steht eine wahre Armada an Schlaginstrumenten. Gegliedert ist diese, wie das dreisätzige Werk, nach den drei Materialien Holz, Metall und (Schlag)Fell. Im ersten Satz Wood liegt der Fokus auf Marimba, Xylophon und verschiedenen Holzblöcken. Die einleitende Solokadenz beginnt mit perkussiven Klängen, die an Wassertropfen erinnern und sich bald verdichten.
Conjurer bedeutet so viel wie Magier, Beschwörer: Grubinger wird diesem Titel gerecht, wenn er wie ein verrückter Professor zwischen den Instrumenten hin und her huscht und diese zum Leben erweckt. Die Symphoniker liefern mit Flagoletts und col-legno-Einlagen atonale Begleitelemente und halten sich sehr stark im Hintergrund. Ebenso wie er zwischen Instrumenten wechselt, wechselt Grubinger auch zwischen verschiedenen Arten von Schlagstöcken und Sticks, zum Teil verwendet er vier gleichzeitig. Die zeitweise ohrenbetäubende (Xylophon!) und atonale Musik trifft den Geschmack des Publikums nicht ganz: Mehrere Leute verlassen den Saal vorzeitig.
Ja, die Musik ist wirr und hochkomplex, doch gleichzeitig hochfaszinierend und erfrischend, um nicht zu sagen verzaubernd! Hammerschläge auf Röhrenglocken und Tamtam leiten den zweiten Satz ein. Neben den metallischen Klängen von Glocken, Becken, Gongs und vielen weiteren Instrumenten steht vor allem das Vibraphon im Mittelpunkt. Während die Celli samtige Wärme beisteuern, bearbeitet der Salzburger sein Vibraphon unerwartet behutsam: Die Klänge – teils geschlagen, teils mit einem Bogen gestrichen – sind fast tonal und vibrieren angenehm. Wie schon im ersten Satz steigern sich Orchester und Solist gemeinsam in die Höhe. Dirigent Gimeno bleibt hierbei weitestgehend unauffällig und überlässt Grubinger die Führung.
Urplötzlich springt dieser in die dritte Sektion der Bühne und hängt sich eine kleine Trommel um. Diese versohlt er ordentlich, zeitgleich stampft er mit seinem Fuß in das Pedal einer großen Trommel. Antworten kommen von den Symphonikern, doch Grubinger lässt sie gar nicht zu Wort kommen. Kurz darauf liefern sie aber gemeinsam martialische Impulse. Schläge auf die riesige Basstrommel klingen wie der Herzschlag eines Riesen, der den Raum dominiert. Langsam kristallisiert sich die Erkenntnis heraus, dass das Schlagwerk ein eigenes Orchester für sich ist, eine unglaublich begeisternde, mitreißende Welt! Diese Ansicht teilt auch das Publikum, das Grubingers schweißtreibende Perfomance mit tosendem Applaus quittiert, in dem ein einzelner Buhruf untergeht.
Wem Coriglianos Konzert zu viel war, der kann sich mit Tschaikowskis Pathétique Linderung verschaffen. Den Klassiker spielen die Symphoniker sehr rasch, fast gehetzt und eher abgeklärt. Da bräuchte es mehr Dynamik, gerade bei den vielen Tempoebenen im ersten Satz. Einen irritierenden Walzer stellt das folgende Allegro con grazia dar: Melodie, Harmonie und Instrumentation entsprechen einem russischen Walzer, Tschaikowski wählte aber den stolpernden 5/4-Takt. Dirigent Gimeno bemüht sich sehr, kommt aber nicht über eine durchschnittliche Interpretation hinaus. Der dritte Satz ist ein Marsch, aber sehr komplex instrumentiert – kein Wunder, dass Tschaikowski hiermit lange kämpfte! Ohne Pause folgt das Finale, dem Titel der Sinfonie entsprechend hoch pathetisch und mit dunklem Ende. Zögerlicher Schlussapplaus.
Thomas Genser, 18. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de