Schweitzers Klassikwelt 118: Wir sind Massenet-Fans

Schweitzers Klassikwelt 118: Wir sind Massenet-Fans  klassik-begeistert.de, 9. Juli 2024

Jules Massenet © Bridgeman Images

Ich hatte schon früher „Werther“ mit Neil Shicoff kennengelernt und noch früher „Manon“ mit Jeanette Pilou, die mich verzauberte. Aber nahe gebracht hat mir diesen Komponisten meine Frau Sylvia. Unsre erste gemeinsame Oper war “Hérodiade“.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Es ist äußerlich dasselbe Thema wie in der Strauss’schen „Salome“, aber als literarische Vorlage zog Massenet Gustav Flauberts Novelle aus den „Drei Erzählungen“ heran, die sich sogar dramatischer liest als das Theaterstück von Oscar Wilde.

Wir verweisen auf unsre Klassikwelt 78 „Säkularisierung in Opern mit biblischen Themen“.

Paul Milliet und Henri Grémont schrieben Massenet das Libretto. Richard Strauss belustigte sich über Jochanaans Askese, setzte aber Oscar Wildes Theaterstück nahezu eins zu eins um. In der „Hérodiade“ ist Johannes der Täufer einfühlsamer auf Salomes Werben, rät ihr zunächst zu einer Spiritualisierung ihrer Gefühle. Nach damaliger Konvention ist die Partie des Täufers deshalb auch für einen Tenor notiert. Letzten Endes kommt es zu einem „Liebestod“. Die Tragik besteht in dieser Fassung darin, dass Salome sehnlichst herausfinden möchte, wer ihre Mutter ist, und entdecken muss, dass ihre Mutter Schuld an der Hinrichtung ihres Geliebten hat. Sie hat Hemmungen ihre leibliche Mutter zu töten und legt dafür Hand an sich.

Wir suchten uns unsere zwei Vorstellungen in den Spielzeiten 1994/95 und 1995/96 nicht nach den Interpretinnen der Titelrolle (Agnes Baltsa, Dolora Zajick, bekannt als Verdi-Interpretin und spätere Komponistin) aus, sondern richteten unser Augenmerk gleichsam nach alter Gewohnheit auf die Sängerin der Salome, auf unseren besonderen Liebling Eliane Coelho.

Jean war in der zweiten Aufführung der bisherigen einzigen Inszenierung dieser Massenet-Oper am 15. Februar Plácido Domingo und in der neunten Aufführung am ersten Tag der neuen Saison José Carreras. Es war sein Rollendebüt an der Wiener Staatsoper, wiederholte jedoch diese Partie dann nur mehr zweimal (am 5. und am 9. September). Juan Pons sang in beiden Fällen die Baritonpartie des Hérode. Es ergab sich in diesem Monat September, dass man am 8. September „Salome“ und am darauffolgenden Abend „Hérodiade“ spielte!

Arbeiten am Bühnenbild der „Hérodiade“ in den Bühnenbildwerkstätten Foto: Atelier Nitsch privat

Sein wohl populärstes Werk die „Manon“ erlebten wir mit den Paaren Miriam Gauci – Giuseppe Sabbatini, Anna Netrebko – Roberto Alagna, Diana Damrau – Ramón Vargas und Pretty Yende – Charles Castronovo. Wir waren glücklich, dass nach der „Göttlichen“ Netrebko Diana Damrau eine würdige Nachfolgerin war. Und auf die Manon der Pretty Yende waren wir auch sehr neugierig und wurden nicht enttäuscht. „Manon“ ist uns lieber als Puccinis „Manon Lescaut“.

Wir vermissen beim Italiener das Bild vom kurzen bescheidenen Leben Manons mit Des Grieux und den traurig-zwiespältigen und rührenden Abschied „Adieu, notre petite table“. Ebenfalls fehlt bei Puccini der wichtige, zwar vergebliche Versuch Des Grieuxs im geistlichen Leben Halt zu finden. Man muss bedenken, dass Massenet und seine Librettisten den autobiographischen Zügen der literarischen Vorlage „Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut“ von Antoine-François Prévost trotz notwendiger starker Kürzungen mehr Beachtung schenken.

„Werther“ ist die Oper von Jules Massenet, die wir an verschiedenen Opernhäusern näher kennenlernten. Vom Opernring ging es zum Theater an der Wien, wieder zurück zur Wiener Staatsoper und anlässlich einer Opernreise mit Pamina Musikreisen hörten und sahen wir „Werther“ an der Opéra Bastille.

Den Goethe-Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ haben wir Gymnasiasten als Hausaufgabe zu lesen bekommen. Das war im Jahr 1960.

Ich erinnere mich noch gut, wie wir zum festgesetzten Termin beim Umziehen in der Garderobe den Roman vernichtend beurteilt haben. Werthers Gefühle und Handlungen wurden als sinnlos betrachtet. Er hätte seine Chancenlosigkeit sehen müssen. Der damalige, schon wieder veraltete Imperativ „Ein Mann weint nicht“ stammt aus der Zeit nach der Werther-Hysterie mit seinen zahlreichen Selbstmorden, die dieser Roman ausgelöst hat. Verwunderlich wie nüchtern wir als Heranwachsende ohne Lebenserfahrung den Roman gesehen haben.

Die „Fragmente einer Sprache der Liebe“ des vom Literaturtheoretiker zum Romancier gewordenen Roland Barthes zitieren häufig Goethes „Werther“-Roman und ließen in kleinen Details den Roman und die Titelfigur unter neuen Aspekten erscheinen.

Die Oper geht über den Roman von Goethe hinaus, wenn die Mutter auf dem Totenbett ihrer Tochter unverantwortlich ein Eheversprechen aufzwingt. Dadurch erscheint alles in einem anderen Licht.

In Massenets „Werther“ finden wir zwei interessante Frauenpartien. Werthers unglückliche Liebe Charlotte, ein Mezzosopran, und Charlottes Schwester Sophie, eine mittlere Partie, die jedoch unserem Empfinden nach Werthers Rettung sein könnte, ein Sopran. Waren Shicoffs Partnerinnen in der für mich gleichsam historischen Aufführung (siehe Schweitzers Klassikwelt 111 „Ein neuer Name taucht auf“) Ann Murray und Eva Lind, so waren im Theater an der Wien das Dreigestirn Marcello Giordani, Jennifer Larmore und Patricia Petibon, die spätere Lulu der Salzburger Festspiele sowie die Constance der „Dialogues des Carmélites“ am Theater an der Wien.

Wieder zurück an der Wiener Staatsoper erlebten wir als Charlotte Elīna Garanča im manche sagen Monroe- und manche Grace Kelly-Look. Sensibel für die Rolle der Sophie geworden gefiel uns neben der lettischen Diva Ileana Tonca, eine später berührende Zdenka. Ein besonderer „Werther“-Abend, der eine Reise wert war, wurde der Abend in der Pariser Opéra Bastille. Jonas Kaufmann, 2010 in Wien noch nicht in aller Munde, sang einen beeindruckenden Werther und Sophie Koch, die wir persönlich bis dahin nur mit dem Octavian in Verbindung brachten, eine großartige Charlotte. Ihren Komponisten im Vorspiel der „Ariadne auf Naxos“ stellen wir auf das höchste Podest.

Vier weiteren Massenet-Opern sind wir jeweils nur einmal begegnet. Nur zwei von ihnen auf der Bühne. Zunächst „Chérubin“ im Tiroler Landestheater 2005. Das erste Mal sind wir umsonst nach Innsbruck gefahren, weil eine Spielplanänderung notwendig wurde. Doch neugierig ließen wir nicht locker. Die Oper hat den weiteren Lebensweg Cherubinos mit zahleichen Verwirrspielen zum Thema. Inhaltlich kein Geniestreich. Michaela Selinger sang den Chérubin, in der zweiten Spielzeit darauf Mozarts Cherubino an der Wiener Staatsoper.

„Don Quichotte“ im Teatro Massimo zu Palermo. Wir sind diesmal nicht nur einem selten gespielten Massenet nachgeflogen, sondern auch dem Bassisten Ferruccio Furlanetto. Von seinem Boris Godunow ist uns neben dem Gesanglichen seine schöne russische Aussprache aufgefallen. Doch konnten wir nicht beurteilen, inwiefern ein italienischer Akzent mitgeklungen hat.

In Palermo im Herbst 2010 hatten wir und andere Opernfreunde das Gefühl, dass unser beliebter Furlanetto (Jahrgang 1949) mit uns alt wird. Sein Bass klang zu unserem Bedauern hohl. Acht Jahre darauf hörten Sylvia und ich unsren Furlanetto als Fürst Gremin in Topform.

Aber vor allem enttäuschte uns die Oper selbst. Das Musical „Der Mann von La Mancha“ (Drei Väter: Dale Wassermann, Mitch Leigh und Joe Darion) ist tiefsinniger als die Comédie lyrique und hat uns mehr bewegt: „So träumt den unmöglichen Traum, bekämpft den unschlagbaren Feind, erträgt den unmöglichen Kummer. Das ist mein Ruf, ich folge dem Stern, wie glücklos auch immer, wie unfassbar fern und wage den Weg.“ Wir kennen dieses Lied/diese Arie noch mit dem Iffland-Ringträger Josef Meinrad!

Werbeplakat für die Uraufführung von Manuel Orazi als Papyrusimitation

Herausgerissen aus dem sinnvollen Zusammenhang der Oper „Thaïs“ als Ausdruck eines Bekehrungserlebnisses erfreut sich die Méditation für Solovioline und Orchester einer gewissen Beliebtheit. Kaum zu glauben, dass das Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper für „Thaïs“ keine einzige Inszenierung angibt, und Operabase kündigt für die kommenden zwölf Monate nur eine Produktion mit fünf Vorstellungen an der Utah Opera, Salt Lake City an. Ein Zeichen, dass Askese und religiöse Bekehrung wenig Interesse finden. Es sind bereits siebzehn Jahre vergangen, seit wir im Wiener Konzerthaus Renée Flemings faszinierenden Sopran in der Rolle der zur Christin bekehrten Hetäre erlebten.

Zu den Salzburger Pfingstfestspielen 2012 waren wir in der Felsenreitschule Zeuge einer konzertanten Aufführung von „Cléopâtre“ über die Leidenschaften zwischen der letzten Pharaonin und dem römischen Politiker, Feldherrn und Mitglied des zweiten Triumvirats, Marcus Antonius.  Es spielte das Mozarteum Orchester unter Vladimir Fedoseyev und es sang der Salzburger Bachchor. Die Hauptrollen sangen französische Sängerinnen und Sänger. Es begeisterten uns Sophie Koch in der Titelrolle, Sandrine Piau, Ludovic Tézier als Marc-Antoine und Benjamin Bernheim. Wir können dankbar sein, wenn solche Liebhaberstücke zumindest ihren Platz auf dem Konzertpodium erhalten.

Bild von Adolphe Cossard, Privatsammlung, wird im Programmheft unter dem Titel „Kleopatra“ 1899 geführt
Das Bild wird im Internet unter „Salammbô“ 1899 nach einer fiktiven Figur eines historischen Romans von Gustave Flaubert geführt.

 

 

Es waren die ersten Pfingstfestspiele unter der künstlerischen Leitung der Cecilia Bartoli mit dem Thema „Im Labyrinth von Eros und Macht“ mit Blickpunkt auf Kleopatra. Unter dem Oberbegriff „Cleopatra raffinata“ wurde Händels bekanntere Oper „Giulio Cesare in Egitto“ aufgeführt, die zeigt, wie Cleopatra durch Verführungskünste Julius Caesar um den Finger wickelt und durch seine Hilfe ihren Bruder entmachtet. Mit dem Übertitel „Cleopatra tragica“ steht der Tod Cleopatras in einem Konzert mit der Kantate von Hector Berlioz „La Mort de Cléopatre“ im Mittelpunkt. Nicht unerwähnt wollen wir die Filmserie „Cleopatra hollywoodiana“ lassen. Vom Stummfilm bis zur Comicverfilmung „Asterix und Kleopatra“. Die Massenet-Oper lief unter dem Oberbegriff „Cleopatra sensuale“ (Die sinnliche Kleopatra).

Das Internet lässt die althergebrachten Nachschlagwerke überflüssig werden. In zahlreichen Opernführern ist unter „Massenet“ nur „Manon“, in einem einzigen uns bekannten Fall auch der „Werther“ angeführt. Wir sind eben Spätromantiker.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 8. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt 78: Säkularisierung in Opern mit biblischen Themen klassik-begeistert.de, 27. Dezember 2022

Schweitzers Klassikwelt 111: Ein neuer Name taucht auf klassik-begeistert.de, 2. April 2024

Schweitzers Klassikwelt 117: Lebten wir Opernfans in unsrer Gymnasialzeit in einem Elfenbeinturm? Oder: Wozzeck versus Carmen klassik-begeistert.de, 25. Juni 2024

Schweitzers Klassikwelt 116: Unsere Opernabende mit Neil Shicoff klassik-begeistert.de, 11. Juni 2024

Schweitzers Klassikwelt 115: Auf welche Weise wir unsre Kritiken im Nachhinein kritisch betrachten klassik-begeistert.de, 28. mai 2024

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