Thielemanns Abschied: Ein allerletzter großer Wurf mit Mahler 8

Gustav Mahler, 8. Symphonie, Christian Thielemann, Dirigent, Sächsische Staatskapelle Dresden  Semperoper Dresden, 9. Juli 2024

© Matthias Creutziger

Nun ist’s geschehen: Die vorerst letzten Töne der Sächsischen Staatskapelle zum Dirigat von Christian Thielemann sind verklungen. Mit Mahlers 8.  Symphonie endete eine 14-jährige Ära, mit der es gelang, die Semperoper wieder zu einem der wichtigsten Opernhäuser der Welt zu machen. Dass die Entscheidung, Christian Thielemanns Vertrag nicht zu verlängern, aus künstlerischer Sicht an kulturpolitischer Naivität kaum zu übertreffen ist, wird an diesem Abend erneut deutlich. Das Publikum feierte Thielemann beim Schlussapplaus weit über 20 Minuten lang – und das, wie immer, völlig zu Recht.

Gustav Mahler
8. Symphonie

Christian Thielemann, Dirigent
Sächsische Staatskapelle Dresden
Gustav-Mahler-Jugendorchester

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Chor des Bayerischen Rundfunks
Kinderchor der Semperoper Dresden

Semperoper Dresden, 9. Juli 2024

von Willi Patzelt

Im Winter 2010 rumorte es heftig an der Dresdner Semperoper. Während die Kapelle gerade auf Skandinavien-Tour in Kopenhagen weilte, machte eine brisante Meldung die Runde: GMD der Semperoper und Chefdirigent der Staatskapelle Fabio Luisi – bei der Tournee krankheitsbedingt nicht dabei – habe außerordentlich gekündigt. Stein des Anstoßes sei gewesen, dass die Staatskapelle mit dem ZDF das Silvesterkonzert für den anstehenden Jahreswechsel an Luisi vorbei verhandelt habe und es mit Christian Thielemann bestreiten wolle.

Dieser hatte im September 2009 mit einer fulminanten Aufführung von Anton Bruckners monumentaler achter Symphonie in Dresden einen umjubelten Erfolg gefeiert. Der Nachfolger für den Chefdirigentenposten war also schnell gefunden: Christian Thielemann sollte ab der Spielzeit 2012/2013 Chefdirigent der Kapelle werden. In zwölf Spielzeiten als Chef hinterließ er tiefe Spuren und prägte den Kulturstandort Dresden maßgeblich. Die Umstände des Endes muten ähnlich seltsam an wie einst jene des Beginns.

Mahler als passender Schlussstein der Ära Thielemann?

Der eigentliche Startpunkt dieser Ära ist mit der glanzvollen Aufführung von Bruckners 8. Sinfonie im Frühherbst 2009 anzusetzen. Dass es Bruckner war, wundert retrospektiv überhaupt nicht. Wohl kein symphonisches Werk wird stärker mit Thielemann in Verbindung gebracht als jener symphonische, apokalyptisch-mystische Gipfelpunkt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und es war gerade jenes Repertoire, mit dem Thielemann in den letzten Jahren die Herzen seines Publikums eroberte. Insofern mag sich mancher gewundert haben, dass Thielemann sich ausgerechnet mit Mahlers Achter aus Dresden verabschiedet, sind doch Mahlers Symphonien nicht gerade bekannt dafür, die musikalische Lieblingskost des Kapellmeisters zu sein.

© Matthias Creutziger

Doch einerseits war Mahlers Achte bereits geplant, bevor man mit der Nichtverlängerung Thielemann-Vertrags zur kulturpolitischen Blamage ansetzte. Und andererseits passt dieses Werk auf den zweiten Blick ungeahnt gut. Es rundet insofern die Jubiläumsspielzeit zum 475-jährigen Bestehen der Sächsischen Staatskapelle ab, als es indirekt auf den wohl dunkelsten Fleck ihrer ruhmreichen Geschichte Bezug nimmt: Beim letzten Erklingen dieser Symphonie in der Semperoper, nämlich im Sommer 1932, dirigierte noch Fritz Busch, der kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von SA-Schergen unter Passivität der Mitglieder der Staatskapelle aus dem Orchestergraben vertrieben wurde. Auch seiner ist an diesem Abend zu gedenken.

Mahlers verheißungsvolle Botschaft

Außerdem ist die Symphonie in ihrer Aussage durchaus passend. Freilich wird es nicht wenigen schwerfallen, in Mahlers Achter überhaupt eine Symphonie zu erkennen. Das monumentale Werk ist nämlich – zumindest erzählerisch – zweigeteilt. Die erste Hälfte vertont den lateinischen Pfingsthymnus Veni creator spiritus (Komm, Schöpfer Geist). Dieser siebenstrophige Hymnus aus dem frühen neunten Jahrhundert gehört zum Schönsten an christlicher Dichtung. Doch wie verbindet er sich mit dem zweiten Teil von Mahlers Achter? Dort findet sich die Schlussszene aus Goethes Faust II vertont. Die schildert eindrucksvoll, wie Fausts Seele von Engeln in den Himmel getragen wird, nachdem Mephisto seine Niederlage erkennen musste. Fausts unermüdliches Streben und die göttliche Liebe haben ihn letztlich erlöst – ganz nach der Verheißung jenes alten Pfingsthymnus.

© Matthias Creutziger

Und diese frohe Botschaft ist wirklich revolutionär! Also sparte Mahler auch nicht an Mitteln, sie dem Zuhörer einzubläuen – und womöglich auch sich selbst. Ein monumentales Orchester mit gemischtem Chor, Kinderchor und acht Solisten schmettern denn auch über zwanzig Minuten lang das in Es-Dur gehaltene christliche Bekenntnis in den Saal.

Thielemann kann auch Mahler

Es ist sehr überzeugend, dass der sonst so auf Ausgewogenheit und Abstimmung ausgehende und alles Grobe ablehnende Thielemann hier keine Scheu vor großer Lautstärke hatte. Zwar beklagte sich Richard Strauss „über das viele Es-Dur“. Doch gerade im Kontrast zum etwa dreimal so langen, viele leise Stellen umfassenden zweiten Teil der Symphonie errichtet dieser strahlende Klang genau jenen Hoffnungspfeiler, an dem sich Faustens Weg in den Himmel aufrankt.

Wenn dann also nach dem wirklich ohrenbetäubenden Es-Dur Gloria Patri (mit zusätzlichem Blech aus dem vierten Rang) nun musikalisch in  es-moll zu – so wortmalt es Goethe – Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde hingeführt wird, dann bekommt man wieder Thielemann’schen Klangzauber vom Allerfeinsten. Kammermusikalisch anmutend eingeführt, spannt der Kapellmeister einen großen Erlebnisraum für die fulminante Schlussszene aus Faust II höchst gelungen auf. Eindrücklich beweist er, dass er nicht nur mit Bruckner’scher oder Wagner’scher Instrumentierung wunderbar klangmalen kann, denn auch bei Mahler gelingt ihm ein durchsichtiger, doch  dabei nie bloß ätherisch-halbgarer Klang.

Thielemann arbeitet außerdem aus der Partitur sehr genau jene „schwingenden Elemente“ heraus, die mancher fälschlich wohl hauptsächlich nur in Mahlers 4. Symphonie vermutet. Denn nicht selten leidet viel des „restlichen“ Mahlers an einer etwas zu „vertikalen Auffassung“ der Partitur, die dann oft zu stark auf jene harmonischen Effekte und Instrumentierungswirkungen abstellt und manches „Horizontale“ an musikalischer Bewegung vernachlässigt. Thielemann aber gelingt eine sich immer spannungsreich fortbewegende und dennoch klanglich die Stilistik Mahlers treffende Interpretation. Womöglich wäre noch mehr Mahler mit ihm in Dresden schön gewesen – aber wer hätte auf all die herrlichen Aufführungen von Bruckner, Brahms und Beethoven auch nur teilweise verzichten wollen?

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Hinreißende Chöre, fulminante Solisten

Das andere, wovon sich mancher womöglich in jenen Jahren mehr gewünscht haben mag, wird die Chormusik gewesen sein. Denn der Sächsische Staatsopernchor Dresden ist ein so unglaublich großartiger Klangkörper, dass ihn zu hören jedes Mal ein echt neues Erlebnis ist. Vom umwerfenden Chor des Bayerischen Rundfunks, mit dem Thielemann auch bei seinen letzten Osterfestspielen in Salzburg Bruckners himmlische Motette Vexilla regis zu einer grenzgenialen Aufführung brachte, sei da noch ganz geschwiegen. Beide Chöre gemeinsam mit Mahler 8 – einfach hinreißend.

Ebenso wie der „Nachwuchs“ mit dem die Staatskapelle ergänzenden Gustav-Mahler-Jugendorchester im Orchester vertreten war, wurde auch der sängerische Nachwuchs mit dem Kinderchor der Semperoper Dresden einbezogen. Die im rechten Proszenium und seitlichen Rang aufgestellten Kinder trug  Thielemann lächelnd und wie auf Händen durch das nicht selten klanglich und rhythmisch schwer durchschaubare Monumentalwerk. Glücklich das Opernhaus, das einen so klangstarken wie klangschönen Kinderchor sich zugehörig nennen darf!

© Matthias Creutziger

Ansonsten durfte sich Dresden auch glücklich schätzen, in den letzten Jahren regelmäßig die absolute Crème de la crème an Sängerbesetzungen an der Semperoper erleben zu dürfen. Umso schöner, dass in Thielemanns letztem Dresdner Konzert auch jene großartigen Sänger dabei waren, die über Jahre hinweg regelmäßig mit ihm zu erleben waren. Praktisch, dass Mahler in seiner achten Symphonie mit – wie passend – acht Solisten dies so wunderbar möglich macht. Einer der Namen Nylund, Merbeth, Mayer, Volle und Zeppenfeld war wohl so gut wie immer auf dem Besetzungszettel einer Opernaufführung mit Thielemann zu finden. Und sie alle überzeugten an diesem Abend auf ganzer Linie. Obendrein mit den großartigen Damen Mühlemann und Pučálková sowie David Butt Phillip als wirklich heldigem Faust bekam man wirklich das Nonplusultra an Sängerbesetzung für Malers Opus ultimum.

© Matthias Creutziger

Ein auch trauriger Tag für Dresden!

Es war dennoch ein unrundes Gefühl, mit dem man an diesem Abend die Semperoper verließ! Dankbar über das dank Christian Thielemann in den letzten Jahren Erlebte, traurig über seinen Weggang. Zu hoffen bleibt, dass Daniele Gatti ab der kommenden Spielzeit künstlerisch Ähnliches gelingt. In große Fußstapfen ist da zu treten. Was am Dienstagabend wohl nicht wenige in Dresden fühlten, ohne es ebenso treffend in Worte fassen zu können, sagte einst Friedrich Schiller so:

Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.

Und ja, wir Dresdner neigen zuweilen sehr zum Pathos… Herzlichen Dank für den Anlass dazu und für noch so viel mehr, lieber Christian Thielemann!

Willi Patzelt, 11. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 8 Es-Dur, Christian Thielemann, Sächsische Staatskapelle Dresden Semperoper, Dresden, 9. Juli 2024

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